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Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage
Autoren: Anna Katharina Hahn
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selbst hergestellt hat, immer wieder staunend, daß ihre Hände so etwas fertigbringen. So schwingt sie mit ihrer Familie im großen Rhythmus im Inneren einer riesigen Glocke, in der sie alle den Lauf der Zeit durchmessen, hin- und hergewiegt, vom Winter in den Frühling, vom Frühling in den Sommer, den Herbst, durch die Adventszeit, in ständiger, beruhigender Wiederholung.
    Aus dem Kinderzimmer dringt leises Summen, »Fuchs, du hast die Gans gestohlen«, unterbrochen vom Geflüster des Kindes. Kilian kauert auf dem hellen Wollteppich, den blonden Kopfüber einen Korb mit unregelmäßig gesägten Aststücken gebeugt. »Und jetzt tu ich dich da rein, du kommscht da rein, und du beißt, du bleibscht draußen.« Es ist seit Wochen Kilians Lieblingsspiel, seine Holztiere in Gehege einzusperren, dicht an dicht, Wald- und Bauernhofbewohner nebeneinander wie in Noahs Arche. Heute macht er zum ersten Mal Unterschiede, nimmt das Liedchen zum Anlaß, den Fuchs auszuschließen. Mit angehaltenem Atem steht Judith im Türrahmen, schaut auf die kleinen stämmigen Beine in der braunen Cordhose, den runden Hinterkopf mit den gleichen hellen Locken wie bei Klaus und Uli, die kräftigen Händchen. Unter den Fingernägeln sind Trauerränder. Die Holzschale mit den Wachsmalblöcken steht auf dem Tisch, und das Blatt Papier daneben ist bedeckt von einer Komposition in Rot, Orange und Gelb, wilde Kreise mit Strahlenkränzen, vielleicht Blumen. Er wird es ihr nachher erklären, »Schau, Mama, da sind der Papa und der Uli, und hier bin ich, und das bischt du.« Und sie wird einen Bleistift nehmen und die Worte ihres Jüngsten auf der Rückseite festhalten, mit Datum und Namen in der rechten oberen Ecke, so sorgfältig wie sie vor ein paar Jahren in einer Galerie am Killesberg als unbezahltes Mädchen für alles Bildtitel und Verkaufspreis notiert hat.

Leonie
    Lisa kann nicht aufhören, die Jungen anzustarren. Sie haben sich schwarze Striche in die Gesichter geschmiert, die Haare sind orange und steif wie Kunstrasen. Ein Paar Hände steckt in Skeletthandschuhen. Es gibt einen zähnefletschenden Kürbis und ein im Schrei erstarrtes Monster. Sie reißen sich die Plastikmasken gegenseitig von den Köpfen und schleudern sie durch die kalte Nachmittagsluft. »Hassan, los, fetz ihm die Fresse runter!« »Ich mach euch fertig! Marco, Ufuk, hier rüber!« Sie lachen und rempeln sich an. Ihre Stimmen, bereits brüchig und dunkel, verlieren dabei an Tiefe. Das hervorbrechende Kichern klingt schrill.
    Lisa dreht sich zu Leonie um: »Mama, was wollen die denn sein, Skelett oder Monster?«
    Ihr kleines Gesicht ist kalkweiß gepudert, die Lippen leuchten dunkelrot. Blaue Augen liegen wie Glasmurmeln unter den schwarzen Brauenbögen. Sie wollte sich selbst schminken, und der weiche Fettstift hat die Härchen so dick ummantelt, daß sie borstig in die Höhe stehen. Ihre Hände umklammern den Puppenbesen. Um die schmutzigen Winterstiefel bauscht sich ein Tüllrock mit aufgenähten Blumen. Auf dem Kopftuch, das Leonie nach langen Diskussionen nicht unter dem Kinn, sondern im Nacken knoten mußte, sitzt ein Straßdiadem vom letzten Fasching: »Ich will eine Hexe sein, aber eine schöne!« Nächsten Herbst wird sie eingeschult, ein unvorstellbarer Gedanke.
    Lisa beobachtet die balgenden, einander umkreisenden Jungen, die allesamt sieben bis acht Jahre älter sein dürften als sie. Leonie ist sicher, daß sie sich das eine oder andere Wort – ›Ausdrücke‹ nennen sie es im Kindergarten – einverleiben wird. Die zweijährige Felicia kauert zu Leonies Füßen. Sie sammelt kleine Kiesel vom Weg, betrachtet sie kurz und schleudert sie dannjuchzend von sich. Das Monstergewimmel berührt sie nicht. Der geerbte Anorak ist ihr zu weit, läßt sie feist und speckig aussehen, ein Trollkind mit roter Nase und grünen Sommersprossen. »Au Lippestift!« hatte sie energisch im Bad gefordert, als Leonie Lisa den Hexenmund pinselte. Jetzt leuchten die feuchten Lippen wie lackiert. Die kleine Zunge kriecht hervor und kostet den Gummibärchengeschmack des Lipgloss.
    »Komm, Mama, wir gehen zum Lagerfeuer!« Lisa zieht an Leonies Mantel. Leonie bewegt sich vorsichtig, ihre hohen Absätze bohren sich in den nassen Lehmboden. Überall liegen die harten olivbraunen Bohnen herum, die die Schafe hinterlassen haben. Es hat in den letzten Tagen viel geregnet. Nebelschwaden waren über das Gelände des Kinderbauernhofs ›Bei den Zaunkönigen‹ gekrochen, hatten die alten Bäume
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