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Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage
Autoren: Anna Katharina Hahn
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Judith
    Judith raucht hastig, mit dem Rücken gegen die Wohnungstür gelehnt. Sie läßt den Rauch tief in ihre Brust einströmen und atmet ihn durch die Nasenflügel wieder aus. Das Verlangen nach einer Zigarette, schlimmer als der Druck einer vollen Blase, beherrscht schon den ganzen Tag. Am Morgen waren die Kinder zu ihr ins Bett geschlüpft, bevor sie sich hinausschleichen konnte, um auf dem Küchenbalkon zu rauchen. Viel zu lange mußte sie auf eine günstige Gelegenheit warten. Das steinerne Gesicht, mit dem sie Tee gekocht, Müsli in Schalen gefüllt, Obst geschnitten und selbst nur an ihrer Tasse genippt hatte, kennt die Familie schon. »Die Mama ist manchmal ein Morgenmuffel«, bemerkte der fünfjährige Uli. Judith macht einen inbrünstigen Lungenzug und stellt sich vor, wie sich die bläulichen Schwaden mit ihrem Blut vermischen und zum Herzen ziehen, es einhüllen und ruhiger schlagen lassen. Die Gier ebbt langsam ab, sie hat wieder Augen und Ohren für ihre Umgebung und beginnt sich zu schämen. Im Treppenhaus flucht Klaus, wahrscheinlich hat er etwas vergessen, die Blockflöte, Ulis Mütze. Um vier fängt der Unterricht an. Sie betet in eine unbestimmte Richtung, daß die beiden nicht noch mal hochkommen. Dann hört sie Ulis helle, vorwurfsvolle Stimme: »Aber Papa, da ist sie doch!«, einen Seufzer von Klaus, Gepolter auf den Stufen, das Schlagen der Haustür. Schnell macht sie den letzten Zug, spürt schon die Glut an den Fingerspitzen, als sie den Stummel in den winzigen Aschenbecher quetscht. Sie schiebt den Deckel zu und schließt eine schmale Faust um das Döschen, das silbern funkelnd und gewärmt von der in seinem Inneren sterbenden Glut anmutet wie das Utensil zu einem besonders verfeinerten Laster – das Spritzbesteck eines Dandys, der Kokslöffel einer Bohemienne.
    Sie geht durch den langen Flur ins Eßzimmer, öffnet die Fenster weit und läßt den Qualm abziehen. Seit langem hat sie sich nicht so gehenlassen. Normalerweise raucht sie auf dem Balkon oder unten im Hof. Das Wegbringen der Mülltüten hat sie deshalb an sich gerissen. Die Constantinstraße liegt still im Nachmittagslicht. Braungelbe Sandsteinhäuser wölben ihre verzierten Fassaden nach vorne wie frische Brote und Kuchen, die aus ihren Backformen quellen. Über den grauen Schieferdächern steht die Sonne und läßt Gerüche aufsteigen, die auch mitten in der Stadt zum Herbst gehören: das Nußaroma zerquetschter Blätter auf dem Gehweg und in den umliegenden Höfen, die Früchte von Eberesche, Holunder, Apfel und Zwetschge, teils überreif an den Ästen, teils als fauliges Fallobst auf der Wiese des kleinen Gartens hinter dem Haus. Dazu kommen die Dünste selten vorbeifahrender Autos und Heizungsrauch als Bote der ersten Nachtfröste.
    Judith versteckt Aschenbecher, Feuerzeug und die Packung Rothändle im Flurschrank in der Tiefe ihrer häßlichsten Handtasche und steckt ein starkes Pfefferminzbonbon in den Mund. Dann tritt sie wieder ans Fenster und schüttelt das Tischtuch aus. Ein Mädchen in Ulis Alter wippt auf dem gegenüberliegenden Bordstein, unruhig wie ein Vogel. Ihr Gesicht ist weiß geschminkt, ein grelles Kopftuch verbirgt das Haar, in einer Hand hält sie einen kleinen Besen. Sie wendet den Kopf zur geöffneten Eingangstür des Nachbarhauses und brüllt: »Mama, Feli, schneller!« Halloween ist erst in einer Woche, aber Judith hat heute schon verkleidete Kinder gesehen. Sollte eines von ihnen klingeln, wird sie nicht öffnen. An mit grinsenden Kürbissen, Skeletten und Vampiren dekorierten Geschäften lotst sie ihre Söhne vorbei.
    Der silberne ˇSkoda ist bereits weg. Sie hat Uli und Klaus nicht gewinkt. Sicher hat der Junge enttäuscht hochgeschaut. Klaus weiß, warum sie nicht aufgetaucht ist. Wahrscheinlich hat er fürsie gelogen: »Die Mama ist sicher in der Küche, oder sie muß sich um den Kilian kümmern.« Aber im Laufe des Abends würde er die Sache doch noch ansprechen: »Mal wieder unnötige Traurigkeit wegen deines Hackstraßenmists.«
    Hackstraßenmist ist Klaus’ Codewort für verschiedene schlechte Gewohnheiten, die Judith aus ihren Jahren in der dunklen Einzimmerwohnung im Stuttgarter Osten mitgebracht hat. Aus dem Fenster konnte man den Gaskessel und die Anlagen der Schlachthöfe sehen, auch das Stadion mit seinem geschwungenen Rund und den Turm einer Kirche, deren Namen sie bis heute nicht kennt.
    In der Hackstraße hatte sie sich schon morgens im Bett die erste angesteckt, mit
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