Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage
Autoren: Anna Katharina Hahn
Vom Netzwerk:
halbgeschlossenen Augen und schlafwarmen Händen, deren Muskeln noch so abgeschlafft waren, daß sie kaum die Kraft hatten, das Feuerzeug aufschnappen zu lassen. Wenn sie sich dann langsam herausquälte, zum Klo, zur Kaffeemaschine und später ins Seminar oder zu einer ihrer Praktikumsstellen, folgte der Morgenzigarette die Frühstückszigarette und so weiter. Und hier in der Constantinstraße, weit weg vom dreckigen Osten, war sie selbst während ihrer Schwangerschaften manchmal nachts aufgestanden und hatte geraucht, lustvoll inhalierend und gleichzeitig gequält von dem Bild des hilflos im Fruchtwasser zukkenden Embryos, dessen Pulsschlag sich enorm beschleunigte, während sich seine Gefäße verengten. Klaus hatte das zum Glück nie mitbekommen, ebensowenig wie ihr Frauenarzt oder die Hebamme.
    Doch Hackstraßenmist war auch der Wunsch, eine Mumie zu sein, reglos und starr, alle Glieder fest umwunden von harzgetränkten Binden, Finsternis vor den Augen, ein vertrocknetes Kräuterbüschel im Mund und das rasende, peinigende Herz, gegen alle Regeln dieser Bestattungsform, ausquartiert in einem Alabasterkrug mit Hieroglyphen in der hintersten Kammer derunterirdischen Behausung. Das unaufhörlich schwätzende Hirn mit seiner Dauerbeschallung »Ich kann nicht, ich kann nicht, ich habe Angst, ich schaffe es nicht« war sauber in Lauge aufgelöst und in Fetzen aus den Nasenlöchern hinausbefördert worden, ähnlich wie Rotz, ebenso unnütz und ekelerregend. Die knöcherne Wölbung war mit Stroh ausgestopft und beherbergte den reinen Frieden. Die Ohren hörten Stille. Keiner konnte diesen tauben Lazarus mehr zurücklocken in ein Leben voller Qualen. Judith, die in der Hackstraße an einer Magisterarbeit über Otto Dix’ altmeisterliche Tafelbilder verzweifelte, war in ihrem Wunsch, dem Zustand des Begrabenseins möglichst nahe zu kommen, an manchen Tagen gar nicht erst aufgestanden. Sie hatte sich die Decke über den Kopf gezogen und sich mit dem Rücken zum Schreibtisch gedreht, um die Bildbände aus der Landesbibliothek, die Stapel zusammengehefteter Kopien und das beleidigt verschlossene Maul ihres Notebooks nicht mehr sehen zu müssen. Erst gegen Abend stand sie auf, wenn Sören, ihre Daueraffäre, anrief und vorschlug, sich in irgendeiner Bar zu treffen. Dann schminkte sie sich sorgfältig, zog ihre Lederhose an und besprühte sich mit ›Opium‹.
    Seit Beginn ihres Kunstgeschichtsstudiums war Judith eine eifrige und ehrgeizige Studentin, die nie kellnern mußte, sondern immer Hilfskraftstellen bekam. Sie saß oft bis zur Schließung der Seminarbibliothek in der Keplerstraße unter einer flackernden Neonröhre, exzerpierte Weisheiten von Panofsky bis Aby Warburg auf Karteikarten, besuchte Wochenende für Wochenende die Staatsgalerie und fuhr mit Billigbussen nach Berlin, Düsseldorf und Hamburg, um sich wichtige Ausstellungen anzusehen. Im Oberseminar kreuzte sie lässig die schmalen Knöchel in roten Riemchenschuhen. Das schwarze Haar trug sie aufgesteckt, dazu ein Make-up wie Frida Kahlo und große glänzende Ohrringe. Daß sie eigentlich Jutta hieß, ihre Eltern einKüchenstudio in Kirchheim unter Teck besaßen und ihre zwei verheirateten Schwestern zusammen schon fünf Kinder hatten, sah man ihr nicht an. Sie sagte nicht viel, aber wenn sie sprach, war es unangreifbar. »Hier hat jemand wirklich nachgedacht. Sehr gut, Frau Seysollf.« Keine ihrer Kommilitoninnen ahnte, daß Judith vor jedem Referat nächtelang nicht schlafen konnte, daß sie weinend unter ihrem Schreibtisch saß und nichts aß, daß sie jeden Beitrag vor einer größeren Gruppe erst niederschreiben und auswendig lernen mußte, bis sie wagte, sich zu äußern. Auch die Abgabe von Hausarbeiten stürzte sie in Panikattacken. Sie verlor mehrere Semester durch die Zögerlichkeit, mit der sie ihre Arbeiten wieder und wieder korrigierte. An der Uni funktionierte dieses Verhalten, denn niemand hielt sie davon ab, niemand gab ihr Ratschläge. Zu Hause verstanden sie nichts davon. Den gelegentlichen Jammerrufen: »Mädle, was bringt dir des, du sottscht endlich au heirate« entging Judith, indem sie ihre Besuche auf die hohen Feiertage beschränkte, obwohl sie an ihrer Familie hing, die runde Kuppe der Teck, ihre Neffen und Nichten und sogar die Kochinseln und Hängeschränke im elterlichen Laden vermißte.
    Der Betreuer ihrer Magisterarbeit war aufgrund seines guten Rufs viel im Ausland. Zu seinen seltenen Sprechstunden mußte man sich Monate vorher
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher