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Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage
Autoren: Anna Katharina Hahn
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anmelden. Als Judith als Hilfskraft für ihn arbeitete, bekam sie ihn innerhalb eines Semesters vielleicht dreimal zu Gesicht. Sie geriet an Professor Baumeister, der zu allem Überfluß Canetti zum Verwechseln ähnlich sah, wie eine Masochistin, die sich auf die Anzeige eines strengen Dompteurs meldet. Er galt als unberechenbar. Seine Streitigkeiten mit den Kollegen im Seminar waren legendär. Man tuschelte, daß er seinem eigenen Assistenten die Diss vor die Füße geschmissen hätte. Judith zitterte am ganzen Körper, wenn sie mit Baumeister telefonierte und mit kühler Stimme ihre Thesen darlegte. Schriftliche Äußerungen vermied sie. Es schien ihr zu gefährlich, ihm etwasin die Hand zu geben, was er zerreißen oder rot anstreichen konnte.
    »Die altmeisterliche Phase bei Otto Dix, das ist ein Thema, über das noch nicht viel geschrieben worden ist. Frau Seysollf, Sie sind doch so gewissenhaft, da machen Sie was draus. Sie wissen, bei mir gibt es keinen Kindergarten. Sie können ja selbständig arbeiten, Ihnen muß man nicht die ganze Zeit das Händchen halten. Nicht mehr als 70 Seiten. Fangen Sie im Kunstgebäude an. Und dann eine kleine Reise auf die Höri, Hemmenhofen. Und am Abend fahren Sie zum Schiener Berg und essen im ›Hirsch‹ ein Felchen in Mandelbutter. Und dazu einen schönen Weißherbst.«
    Judith mochte Otto Dix nicht. Die tückischen Fratzen seiner Großstädter schoben sich sogar beim Einkaufen und in der Straßenbahn vor die Gesichter der Passanten. Sie sah Babys in Kinderwagen, die sich plötzlich in bläulichrote Abtreibungsopfer verwandelten. Die Bettler in der Unterführung Keplerstraße grinsten mit verstümmelten Fratzen, die Bonzenfrauen bei Breuninger leuchteten in der teigigen Obszönität von Berliner Nutten. Auch unter den eisklaren Himmeln der altmeisterlichen Landschaften verspürte sie stets ein Frösteln.
    In der Staatsgalerie schlich Judith, nachdem sie pflichtbewußt ihre Visite bei den Expressionisten beendet hatte, zu Corinth, Liebermann und Thoma. Sie betrachtete Waldwiesen, kinderreiche Familien, mit den Händen arbeitende Menschen und setzte sich auf eine der mit dunkelgrünem Samt bezogenen Bänke. Sie stützte den Kopf in die Hände und schaute in eine Welt, die es nicht mehr gab und in die sie sich, allem Wissen über den sozioökonomischen Kontext zum Trotz, sofort gestürzt hätte.
    Das einzige Dix-Bild, das Judith gefiel, war das der Tänzerin Anita Berber. Sie hing als Poster an ihrem Kleiderschrank in der Hackstraße, im knallroten Kleid, durch das sich Brüste und Scham abzeichneten wie eine Ohrfeige. Eine Hand stützte sichauf der Hüfte, die lackierten Klauen glänzten. Anita zeigte eine arrogante Fresse und war einfach nur cool. »Die würde ich nicht vögeln, da hätte ich zuviel Schiß«, meinte Sören mit einem Kopfschütteln.
    In der Dix-Ära begannen die Symptome der Angst unerträglich zu werden. Das Gefühl des Versagens, des totalen Abkackens, wie Sören es nannte, packte sie, schüttelte sie durch und machte es unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Angst, normalerweise nur ein zeitweiliger Gast, begann sich jetzt häuslich niederzulassen und in ihrem Brustkorb festzusetzen. Sie ließ sie nachts wach liegen und begleitete jeden ihrer Schritte, verschaffte ihr einen hohen Ruhepuls und einen unsteten Blick.
    Als sie an einem Sommernachmittag nicht mehr in der Lage war, die Bibliothek zu betreten, ging sie von der Uni geradewegs zum Arzt. Sie hatte in großer Runde etwas über Schlaflosigkeit gesagt. Der Name eines Neurologen war gefallen. »Der ist total locker drauf, der schreibt dir auch ein Attest, wenn du im Examen was brauchst oder für ’ne Klausur.« Judith schilderte dem Arzt ihre Ängste und verließ die Praxis mit einem Rezept für Tavor tabs und der Auflage, in einer Woche wiederzukommen. So begann die Zeit der blauen Dose.
    Die blaue Blechdose war ein Mitbringsel aus London. Auf dem Deckel stand ›General Bisquits‹. Darunter waren zwei nackte Engel eingeprägt, die ein Netz in den Händen hielten. Darin zappelte ein dicker Fisch, der trotz seiner prekären Lage ein Schmunzeln um das breite Maul trug. Die Dose steht in der Constantinstraße ganz hinten im Küchenschrank und enthält Ausstecher für Weihnachtsplätzchen. In der Hackstraße hatte sie, für jedermann sichtbar, auf dem Spülkasten der Toilette ihren Platz gehabt. Judith verwahrte ihre Medikamente darin, zunächst nur Kopfschmerztabletten und eine Schachtel Tavor.
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