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Kürzere Tage

Kürzere Tage

Titel: Kürzere Tage
Autoren: Anna Katharina Hahn
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Änderungsschneidereien, das Arbeitsamt am Stöckach, Tankstellen, Discounter und die lange Schräge der Werastraße, die aus diesen Niederungen ins Gerichtsviertel hinaufführt.
    Dann sieht sie sich selbst, mit verschmierter Wimperntusche, eine ihrer riesigen Silbercreolen in der aufgelösten Frisur verhakt, heftig hustend. Der Husten kam von ihrem Versuch, Sörens Penis bis zum Schaft zu schlucken. Sie würgte, drehte den Kopf stumm zur Seite. »Nicht auf meine Jacke, Mensch«, brüllte er und riß ihr das Kleidungsstück, eine alte Pilotenjacke der U.S. Army, förmlich unter dem Hintern weg. Sören studierte Medizin in Tübingen und kam nur am Wochenende nach Stuttgart. Er war groß, blaß und blond. Sein Gesicht mit der Hakennase, dem vollen Mund und den kalten blauen Augen hinter der Stahlbrille hatte einen abschätzigen Ausdruck, den es selbst im Schlaf nicht verlor. Gewöhnlich kippte Judith ein paar Kurze, bevor sie ihre abendlichen Partytouren begann, um jene Gleichgültigkeit zu erlangen, die man ihrer Ansicht nach brauchte, um mit Männern insGespräch zu kommen. »Du siehst aus wie ein Nazi-Offizier«, hatte sie zu Sören gesagt. Sie nahm ihn mit in die Hackstraße und erschrak darüber, wie sehr sie sich wünschte, etwas Verbindliches von ihm zu hören, als er am nächsten Morgen in seine Jeans stieg. Aber Sören ließ sich nicht festlegen. Er kam, wann es ihm paßte, rief an, wenn er in der Stadt war, oder zitierte Judith nach Tübingen in sein Wohnheim. Er sprach ganz offen von seinen anderen Beziehungen, es mußten mindestens zwei sein. Judith verbat sich nähere Informationen. Natürlich hätte sie gerne jedes Detail erfragt, aber sie wollte nicht aus der Rolle fallen. Einmal klingelte er mitten in der Nacht bei ihr, blutüberströmt und nach Bier stinkend, und nähte sich in ihrem fensterlosen, immer nach Ausguß riechenden Bad selbst die lange Platzwunde über der Stirn, ohne eine Erklärung. Er schrieb seine Diss über Penicillin und schwärmte ständig von der Wunderkraft der Antibiotika. Aber Sören brachte ihr auch Champagner und küßte sie auf dem Balkon des Verbindungshauses, während verschiedene blonde Frauen wütend zusahen. Seine harten Finger hatten sich mit den ihren verschränkt, während die sonnendurchwärmten Säulen der Sandsteinbalustrade gegen ihren Rücken drückten wie die Rippenbögen eines riesigen Urzeit-Lebewesens. Sörens Gesicht war ganz nah, die Brille spiegelte vor seinen Augen. Sie nahm sie vorsichtig ab und steckte sie ein. Er war stark kurzsichtig, und den Rest des Abends mußte er an ihrer Hand gehen.
    Judith kneift die Augen zusammen, schüttelt sich, um den Film abreißen zu lassen. Sie zwingt sich, an Kilians Imbiß zu denken, bis zum Abendessen dauert es noch. Nach dem Abschied von Vater und Bruder hat sich der Dreijährige ins Kinderzimmer zurückgezogen. Er kann sich lange allein beschäftigen und ist, im Gegensatz zu dem redseligen Uli, nicht ständig auf ein Gegenüber angewiesen.
    Sie füllt getrocknete Apfelringe und Rosinen in eine kleineSchüssel, löffelt Kräutertee in das porzellanene Ei mit Vergißmeinnichtmuster, dreht den Wasserhahn auf, hält den Kessel darunter, reißt ein Streichholz an – in der Hackstraße gab es ein Feuerzeug in Knallpink mit dem Aufdruck eines Pizzaservices. Sie entzündet das Gas. Das Wasser kocht schnell. Das Pfeifen des Kessels, das Versinken des Eis, das beim Eintauchen eine Schnur silbriger Blasen hinter sich herzieht, der Geruch nach Minze und Melisse, das alles ist wie jeden Tag. Die Ordnung der Dinge wird von ihr und der Waldorfpädagogik bestimmt: keine Aufregungen, kein Fernsehen, nicht zuviel Besuch, ein durchritualisierter Alltag, geregelt nach dem Kreislauf der Natur. Es ist ein vorhersehbares Leben, zu Hause genauso wie im Kindergarten: montags Müsli, dienstags Schrotbrei, mittwochs Wasserfarben, donnerstags Plastizieren, wochenlang wird dasselbe Märchen erzählt. Das Gehetze ist aus ihrem Leben verschwunden. Sie fährt oft aus der Stadt hinaus, über Degerloch hinauf in die eingemeindeten Dörfer auf den Fildern. Dort hält sie Ausschau nach Schildern: Blumen zum Selbstschneiden. Sie schleppt sie büschelweise nach Hause: Pfingstrosen, Gladiolen und Sonnenblumen, im Herbst Astern, Efeuranken, Tannenzweige und schließlich Christrosen, grünlichbleich mit wächsernen Blütenblättern voller Frostkristalle. Im Wohnzimmer steht der Jahreszeitentisch mit den kleinen Filzfiguren der Naturgeister, die sie alle
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