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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Autoren: Warlam Schalamow
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ganze Brigade von Arbeitsverweigerern weggefahren, von »Trotzkisten«; zu jenen Zeiten nannte man sie übrigens nicht Verweigerer, sondern wesentlich milder »Nichtarbeitende«. Sie lebten in einer eigenen Baracke mitten in der Siedlung, einer nichtumzäunten Häftlingssiedlung, die damals auch keinen so schrecklichen Namen hatte wie in Zukunft, einer sehr nahen Zukunft, die »Zone«. Die »Trotzkisten« erhielten auf gesetzlicher Grundlage 600 Gramm Brot am Tag und das warme Essen und arbeiteten ganz offiziell nicht. Jeder Häftling konnte sich ihnen anschließen, in die Nichtarbeiter-Baracke wechseln. Im Herbst siebenunddreißig lebten in dieser Baracke fünfundsiebzig Mann. Sie alle verschwanden ganz plötzlich, der Wind klapperte mit der unverschlossenen Tür, und innen war unbewohnte schwarze Leere.
    Plötzlich zeigte sich, dass die staatliche Zuteilung, die Brotration nicht ausreicht, dass der Hunger groß ist, aber man nichts kaufen und von den Kameraden nichts erbitten kann. Um Hering, ein Stück Hering kann man einen Kameraden noch bitten, aber um Brot? Plötzlich bot einem niemand mehr etwas an, alle aßen oder kauten verstohlen etwas, schnell, im Dunkeln, in den eigenen Taschen nach Brotkrümeln tastend. Das Suchen nach diesen Krümeln wurde zur fast automatischen Beschäftigung in jeder freien Minute. Aber freie Minuten gab es immer weniger. In der Schusterwerkstatt hatte immer ein riesiges Fass Fischtran gestanden. Das Fass war halb mannshoch, und wer wollte, tauchte einen schmutzigen Lappen in dieses Fass und rieb sich damit die Schuhe ein. Erst nach einiger Zeit kam ich darauf, dass der Fischtran Fett, Öl, Nahrung ist, dass man diese Schuhwichs essen kann – diese Erleuchtung war wie das Heureka des Archimedes. Ich stürzte, das heißt schleppte mich in die Werkstatt. Leider stand das Fass schon längst nicht mehr in der Werkstatt, andere Leute waren schon denselben Weg gegangen, den ich gerade antreten wollte.
    Ins Bergwerk wurden Hunde gebracht, deutsche Schäferhunde. Hunde?
    Wie alles begann? Für November wurde den Schürfarbeitern kein Geld gezahlt. Ich erinnere mich, wie in den ersten Tagen der Arbeit im Bergwerk, im August und September, der Bergwerksinspektor – diese Bezeichnung hatte sich wohl seit Nekrassows Zeiten erhalten – bei uns, den Arbeitern, stehenblieb und sagte: »Das ist schlecht, Jungs, schlecht. Wenn ihr so arbeitet, werdet ihr nichts nach Hause zu schicken haben.« Ein Monat verging, und es stellte sich heraus, dass jeder irgendein Einkommen hatte. Die einen schickten per Postüberweisung Geld nach Hause und beruhigten ihre Familien. Die anderen kauften für dieses Geld im Lagergeschäft, im Lädchen, Papirossy, Milchkonserven und Weißbrot … Mit all dem war es auf einmal, plötzlich vorbei. Wie der Wind verbreitete sich das Gerücht, die »Latrinenparole«, es würde kein Geld mehr gezahlt. Wie alle »Latrinenparolen« im Lager, bestätigte sich auch diese »Latrinenparole« vollkommen. Abgerechnet wird künftig nur noch in Verpflegung. Überwachen werden die Erfüllung des Plans neben den Lagermitarbeitern, sie sind Legion, und neben der um ein Mehrfaches erweiterten Produktionsleitung – eine bewaffnete Lagerwache, Soldaten.
    Wie alles begann? Einige Tage hatte ein Schneesturm getobt, die Straßen waren eingeschneit und der Bergpass geschlossen. Schon am ersten Tag, als der Schneefall vorüber war – während des Sturms hatten wir zu Hause gesessen –, führte man uns nach der Arbeit nicht »nach Hause«. Von Begleitposten eingeschlossen, liefen wir ruhig in ungeordneten Häftlingsreihen, liefen mehrere Stunden über unbekannte Pfade zum Bergpass, bergauf, immer bergauf – die Müdigkeit, der steile Aufstieg, die dünne Luft, der Hunger, die Erbitterung, all das bremste uns. Die Anschnauzer der Begleitposten peitschten uns vorwärts. Es herrschte schon völlige Dunkelheit, eine sternenlose Nacht, als wir den Schein zahlreicher Feuer an den Wegen um den Pass bemerkten. Je tiefer die Nacht wurde, umso heller brannten die Feuer, brannten mit der Flamme der Hoffnung, der Hoffnung auf Erholung und Essen. Nein, diese Feuer hatte man nicht für uns gemacht. Die Feuer waren für die Begleitposten. Eine Menge Feuer bei vierzig, fünfzig Grad Frost. Über drei Dutzend Werst schlängelten sich die Feuer. Und irgendwo unten in den Schneekratern standen Menschen mit Schaufeln und legten die Straße frei. Die Schneewände des schmalen Grabens waren fünf Meter hoch. Der
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