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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Autoren: Warlam Schalamow
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»Formulare« mit besonderen Markierungen versahen. Ein Formular mit blauem diagonalen Streifen hatten die Lagerakten der Trotzkisten. Grüne (oder lila?) Streifen hatten die Gewohnheitsverbrecher – gemeint waren politische Gewohnheitsverbrecher. Registratur ist Registratur. Mit dem eigenen Blut eines jeden kann man dessen Formular nicht färben.
    Weswegen wurde noch erschossen? »Wegen Beleidigung des Lager-Begleitpostens«. Was ist das? Hier ging es um verbale Beleidigung, um eine zu wenig ehrerbietige Antwort, um jede »Widerrede« – als Reaktion auf Schläge, Püffe, Stöße. Jede allzu ungenierte Geste des Häftlings beim Reden mit dem Begleitposten galt als »Überfall auf den Begleitposten« …
    »Wegen Arbeitsverweigerung«. Sehr viele Menschen kamen um, ohne das Lebensgefährliche ihres Benehmens überhaupt begriffen zu haben. Den kraftlosen Alten, den hungrigen, gequälten Menschen fehlte die Kraft, den Schritt aus dem Tor zu machen beim morgendlichen Ausrücken. Die Verweigerung wurde in Protokollen festgehalten. »Nach der Saison beschuht, gekleidet«. Die Formulare für solche Protokolle wurden auf dem Abziehapparat vervielfältigt, in reichen Bergwerken bestellte man sogar in der Druckerei Formulare, in die man nur den Nachnamen und die Daten: Geburtsjahr, Artikel, Haftdauer eintragen musste … Drei Verweigerungen – und Erschießung. Nach dem Gesetz. Viele Menschen konnten das wichtigste Lagergesetz nicht verstehen – um seinetwillen wurden die Lager ja erfunden –, dass man im Lager die Arbeit nicht verweigern darf, dass die Verweigerung als das ungeheuerlichste Verbrechen gilt, schlimmer als jede Sabotage. Man muss sich, und sei es aus letzter Kraft, an den Arbeitsplatz schleppen. Der Vorarbeiter zeichnet die »Einheit«, die »Arbeitseinheit« ab, und der Betrieb wird die »Annahmeerklärung« geben. Und du bist gerettet. Für heute vor der Erschießung. Und bei der Arbeit brauchst du keineswegs zu arbeiten, und du kannst auch nicht arbeiten. Halte die Qual dieses Tages bis zu Ende aus. Im Betrieb wirst du sehr wenig leisten, aber du bist kein »Verweigerer«. Erschießen können sie dich nicht. Dieses »Recht«, heißt es, hat die Leitung in diesem Fall nicht. Ob so ein »Recht« existiert, weiß ich nicht, aber viele Jahre habe ich viele Male mit mir gekämpft, die Arbeit nicht zu verweigern, wenn ich zum Ausrücken am Tor der Lagerzone stand.
    »Wegen Metalldiebstahls«. Alle, bei denen »Metall« gefunden wurde, wurden erschossen. Später wurde ihr Leben geschont, und man gab nur eine zusätzliche Haftstrafe – fünf, zehn Jahre. Eine Unmenge von Goldklumpen sind durch meine Hände gegangen – das Bergwerk »Partisan« war sehr »goldträchtig«, aber das Gold weckte bei mir kein anderes Gefühl als den tiefsten Ekel. Goldklumpen muss man sehen können, sie von Stein zu unterscheiden lernen. Erfahrene Arbeiter brachten den Neulingen dieses wichtige Fertigkeit bei – damit sie das Gold nicht in die Schubkarre werfen, damit der Aufseher an der Waschtrommel nicht schrie: »Hej, ihr, Schlafmützen! Wieder habt ihr Goldklumpen in die Wäsche geworfen.« Für die Goldklumpen wurde den Häftlingen eine Prämie gezahlt – einen Rubel pro Gramm, ab dem einundfünfzigsten Gramm. Eine Waage gab es nicht in der Grube. Ob der von dir gefundene Klumpen vierzig oder sechzig Gramm wiegt – kann nur der Aufseher entscheiden. Höhere Ränge als den Brigadier sprachen wir nicht an. Zurückgewiesene Klumpen fand ich viele, und zur Bezahlung aufgestellt wurde ich zweimal. Der eine Goldklumpen wog sechzig, der andere achtzig Gramm. Selbstverständlich bekam ich keinerlei Geld auf die Hand. Ich bekam nur eine »Stachanow«-Lebensmittelkarte für eine Dekade und vom Vorarbeiter und vom Brigadier je eine Prise Machorka. Das war der Dank.
    Die letzte, stärkste »Rubrik«, unter die eine große Zahl von Erschossenen fiel: »Wegen Nichterfüllens der Norm«. Wegen dieses Lagerverbrechens erschoss man ganze Brigaden. Es wurde auch eine theoretische Grundlage gelegt. Im ganzen Land wurde in dieser Zeit der staatliche Plan bis an die Werkbank »herangeführt« – in Fabriken und Werken. An der Häftlings-Kolyma wurde er bis an die Grube, an die Schubkarre, an die Hacke herangeführt. Der staatliche Plan – ist Gesetz! Das Nichterfüllen des staatlichen Plans ist ein konterrevolutionäres Verbrechen. Wer die Norm nicht erfüllt – auf den Mond !
    Der dritte Todesstrudel, der mehr Häftlingsleben vernichtete
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