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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Autoren: Warlam Schalamow
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Schnee wurde terrassenartig von unten nach oben geschaufelt, zwei-, dreimal weitergeschaufelt. Als alle Leute an ihrem Platz und von den Begleitposten – der Schlangenlinie der Feuer – umstellt waren, überließ man die Arbeiter sich selbst. Ob die zweitausend Mann überhaupt nicht arbeiteten oder schlecht arbeiteten oder arbeiteten wie toll, interessierte keinen. Der Pass musste freigelegt werden, und ehe er nicht freigelegt ist – rührt sich keiner vom Fleck. Wir standen viele Stunden in diesem Schneegraben und schwenkten die Schaufeln, um nicht zu erfrieren. In dieser Nacht verstand ich eine seltsame Sache, machte ich eine Beobachtung, die sich später viele Male bestätigte. Schwer, quälend schwer und hart ist die zehnte, die elfte Stunde einer solchen zusätzlichen Arbeit – danach nimmst du die Zeit nicht mehr wahr, und eine Große Gleichgültigkeit ergreift dich, die Stunden vergehen wie Minuten, schneller noch als Minuten. Zurück »nach Hause« kamen wir nach mehr als dreiundzwanzig Stunden Arbeit – wir hatten gar keinen Hunger, und die angesammelte Nahrung eines ganzen Tages aßen alle ungewöhnlich faul. Mit Mühe gelang es uns einzuschlafen.
    Drei Todesstrudel kreuzten sich und tobten durch die verschneiten Gruben der Goldbergwerke der Kolyma des Winters 37/38. Der erste Strudel war die »Bersin-Affäre«. Der Direktor des Dalstroj, der Begründer der Lager an der Kolyma Eduard Bersin wurde Ende siebenunddreißig als japanischer Spion erschossen. Nach Moskau gerufen und erschossen. Mit ihm zusammen kamen seine engsten Gehilfen um – Filippow, Majsuradse, Jegorow, Waskow, Zwirko – die ganze Garde der Wischera -Leute, die 1932 gemeinsam mit Bersin zur Kolonisierung der Kolyma-Region gekommen war. Iwan Gawrilowitsch Filippow war Chef des USWITL und Stellvertreter Bersins im Lager. Als alter Tschekist, Mitglied des Kollegiums der OGPU , war Filippow ehemals Vorsitzender der »Entlastungstrojka« auf den Solowezker Inseln. Es gibt einen Dokumentarfilm »Solowki« aus den zwanziger Jahren. Und in diesem Film wird Iwan Gawrilowitsch in seiner damaligen Hauptrolle gezeigt. Filippow starb im Gefängnis von Magadan – sein Herz versagte.
    Das »Waskow-Haus« – so hieß und heißt bis zum heutigen Tag das Gefängnis von Magadan, das Anfang der dreißiger Jahre gebaut wurde; später wurde aus dem hölzernen ein Steingefängnis, doch es behielt seinen ausdrucksvollen Namen, den Namen des Chefs, Waskow. An der Wischera hatte Waskow – ein alleinstehender Mann – die freien Tage immer gleich verbracht: er setzte sich auf eine Bank im Garten oder dem Gehölz, das den Garten ersetzte, und schoss den ganzen Tag aus einem Kleinkalibergewehr ins Laub. Aleksej Jegorow – der »fuchsrote Ljoschka«, wie man ihn an der Wischera nannte, war an der Kolyma Chef der Produktionsverwaltung, die offenbar mehrere Goldbergwerke der Südlichen Verwaltung zusammenfasste. Zwirko war Chef der Nördlichen Verwaltung, zu der auch das Bergwerk »Partisan« gehörte. 1929 war Zwirko Chef der Grenzwache gewesen und hatte Urlaub in Moskau gemacht. Nach einem Gelage im Restaurant schoss Zwirko hier auf die Quadriga des Apollo über dem Eingang des Bolschoj Theaters – und landete in der Gefängniszelle. Litzen und Knöpfe wurden von seiner Kleidung abgetrennt. In einer Häftlingsetappe kam Zwirko im Frühjahr 1929 an die Wischera und büßte dort die vorgesehenen drei Jahre ab. Mit der Ankunft Bersins an der Wischera Ende 1929 ging es mit Zwirkos Karriere schnell bergauf. Noch als Häftling wurde Zwirko Chef der Außenstelle »Parma«. Bersin hatte einen Narren an ihm gefressen und nahm ihn mit an die Kolyma. Erschossen wurde Zwirko, heißt es, in Magadan. Majsuradse war Chef der URO , er hatte wegen »Schüren nationalen Zwistes« gesessen, wurde noch an der Wischera freigelassen und war gleichfalls ein Favorit Bersins. Verhaftet wurde er in Moskau, im Urlaub, und sofort erschossen.
    All diese Toten sind Leute aus Bersins nächster Umgebung. In der »Bersin-Affäre« wurden viele Tausende Menschen, Freie und Häftlinge, verhaftet und erschossen oder mit »Haftstrafen« bedacht – Chefs von Bergwerken und Lagerabteilungen, Propagandisten und Sekretäre der Parteikomitees, Vorarbeiter und Einsatzleiter, Älteste und Brigadiere … Wie viel tausend Jahre Lager- und Gefängnis»haft« wurden gegeben? Wer weiß …
    Im stickigen Rauch der Provokationen wirkte die Kolyma-Ausgabe der sensationellen Moskauer Prozesse durchaus
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