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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Autoren: Warlam Schalamow
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gearbeitet hast, heißt das, du hast Arbeiterblut getrunken, und man wusste, was solche Urteile wert waren: Neid ist ein schlechter Ratgeber. Wolodja war in unseren Augen gleich maßlos gewachsen, als hätte sich unter uns ein hervorragender Geiger gefunden. Und dass Dobrowolzew – das erforderten die Betriebsverhältnisse – allein wegging und beim Verlassen des Lagers durch die Wache das Wachfensterchen öffnete und seine Nummer »fünfundzwanzig« mit so freudiger, lauter Stimme hineinrief – daran waren wir längst nicht mehr gewöhnt.
    Manchmal arbeitete er in der Nähe unserer Grube. Und weil wir ihn kannten, liefen wir der Reihe nach hin, uns am Rohr zu wärmen. Das Rohr hatte etwa anderthalb Zoll im Durchmesser, man konnte es mit der Hand umfassen, in der Faust halten, und die Wärme ergoss sich fühlbar von der Hand in den Körper, und wir hatten nicht die Kraft, uns loszureißen, um in die Grube, in den Frost zurückzukehren …
    Wolodja vertrieb uns nicht wie die anderen Pointisten. Niemals sagte er uns ein Wort, obwohl ich weiß, dass es den Pointisten verboten war, unsereins zum Aufwärmen an die Rohre zu lassen. Er stand aufrecht, in dichte weiße Dampfwolken gehüllt. Seine Kleidung war vereist. Jede Fluse an der Steppjacke funkelte wie eine Kristallnadel. Er sprach niemals mit uns – der Wert dieser Arbeit war offenbar doch zu groß.
    -
    Am Weihnachtsabend dieses Jahres saßen wir am Ofen. Seine Eisenwände waren aus Anlass des Festtags röter als gewöhnlich. Der Mensch spürt den Temperaturunterschied sofort. Und wir, die wir hinter dem Ofen saßen, überließen uns der Träumerei, der Poesie.
    »Wie schön wäre es, Freunde, wenn wir nach Hause fahren könnten. Denn es geschehen doch Wunder …«, sagte der Pferdetreiber Glebow, ein ehemaliger Professor für Philosophie und in unserer Baracke dafür bekannt, dass er vor einem Monat den Namen seiner Frau vergessen hatte. »Aber bitte, nur die Wahrheit.«
    »Nach Hause?«
    »Ja.«
    »Ich sage die Wahrheit«, antwortete ich. »Lieber ins Gefängnis. Das ist kein Scherz. Ich möchte jetzt nicht zurück zu meiner Familie. Dort wird man mich niemals verstehen, verstehen können. Das, was ihnen wichtig erscheint – ich weiß, dass es eine Nichtigkeit ist. Das, was mir wichtig ist – das wenige, das mir geblieben ist –, vermögen sie weder zu verstehen noch nachzufühlen. Ich bringe ihnen neue Angst, eine weitere Angst zu den tausend Ängsten, die ihr Leben erfüllen. Das, was ich gesehen habe – soll ein Mensch nicht sehen und nicht einmal wissen. Das Gefängnis ist etwas anderes. Das Gefängnis ist Freiheit. Es ist der einzige Ort, den ich kenne, wo die Menschen ohne Angst alles aussprachen, was sie dachten. Wo sie sich innerlich erholten. Körperlich erholten, weil sie nicht arbeiteten. Dort war jede Stunde des Daseins sinnvoll.«
    »Du erzählst uns ja was«, sagte der ehemalige Philosophieprofessor. »Und das nur, weil sie dich während der Untersuchung nicht geschlagen haben. Wer Methode Nummer drei erlebt hat, der ist anderer Meinung …«
    »Und du, Pjotr Iwanytsch, was sagst du?«
    Pjotr Iwanowitsch Timofejew, ehemaliger Trust-Direktor im Ural, lächelte und blinzelte Glebow zu.
    »Ich würde nach Hause zurückkehren, zu meiner Frau, zu Agnija Michajlowna. Ich würde einen Laib Roggenbrot kaufen! Ich würde Grütze kochen aus Magara – einen ganzen Eimer! Quarkklößchen-Suppe – auch einen Eimer! Und das würde ich alles essen. Zum ersten Mal im Leben würde ich mich sattessen an all dem Guten, und die Reste müsste Agnija Michajlowna aufessen.«
    »Und du«, wandte sich Glebow an Swonkow, den Hauer unserer Brigade und in seinem ersten Leben Bauer aus dem Gebiet Jaroslawl oder Kostroma.
    »Nach Hause«, antwortete ernst, ohne Lächeln, Swonkow. »Ich glaube, ich würde sofort hingehen und keinen Schritt von meiner Frau weichen. Wohin sie geht, ich gehe mit, wohin sie geht, ich gehe mit. Nur die Arbeit haben sie mir abgewöhnt – ich habe die Liebe zum Land verloren. Aber irgendwo werde ich schon unterkommen …«
    »Und du?«, Glebows Hand berührte das Knie unseres Barackendienstes.
    »Als allererstes würde ich ins Partei-Kreiskomitee gehen. Dort lagen immer Kippen auf dem Fußboden – in rauen Mengen …«
    »Mach keine Witze …«
    »Ich mache keine Witze.«
    Plötzlich sah ich, dass nur noch einer antworten musste. Dieser eine war Wolodja Dobrowolzew. Er hob den Kopf, ohne die Frage abzuwarten. Das Licht der glühenden Kohlen
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