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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Autoren: Warlam Schalamow
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als die beiden ersten zusammengenommen, war das Massensterben – an Hunger, an den Schlägen, an Krankheiten. Bei diesem dritten Strudel spielten die Ganoven, die Kriminellen, die »Volksfreunde« eine große Rolle.
    Im ganzen Jahr 1937 starben im Bergwerk »Partisan« mit einem Listenbestand von Zwei-, Dreitausend nur zwei Personen – der eine ein Freier, der andere ein Häftling. Sie wurde nebeneinander am Hügel beerdigt. Auf beiden Gräbern stand eine Art Obelisk – der des Freien höher, der des Häftlings niedriger. 1938 war eine ganze Brigade mit Gräberschaufeln beschäftigt. Der Stein und der Dauerfrostboden wollen die Toten nicht aufnehmen. Man muss bohren, sprengen, das Gestein ausheben. Das Gräberschaufeln und das »Schlagen« von Erkundungsschürfen ähneln sich in den Arbeitsverfahren, den Werkzeugen, dem Material und den »Ausführenden«. Eine ganze Brigade war allein mit Gräberschaufeln beschäftigt, nur Gemeinschafts-, nur »Massengräber« mit namenlosen Toten. Übrigens nicht ganz namenlosen. Gemäß den Instruktionen band der Arbeitsanweiser als Vertreter der Lagerobrigkeit vor dem Beerdigen ein Sperrholzplättchen mit der Nummer der Lagerakte an den linken Knöchel des nackten Toten. Vergraben wurden alle nackt, natürlich! Die – ebenfalls gemäß den Instruktionen – ausgebrochenen Goldzähne wurden in ein spezielles Beerdigungsprotokoll eingetragen. Die Grube mit den Leichen wurde mit Steinen zugeschüttet, aber die Erde nahm die Toten nicht an: ihnen war Unvergänglichkeit bestimmt – im Dauerfrostboden des Hohen Nordens.
    Die Ärzte hatten Angst, in den Befunden die wirkliche Todesursache zu schreiben. Sie nannten »Poliavitaminosen«, »Pellagra«, »Ruhr«, »RFI« – beinahe das »Rätsel N.F.I.«, wie bei Andronikow . Dann ist RFI, »extreme physische Auszehrung«, schon ein Schritt in Richtung Wahrheit. Aber solche Diagnosen stellten nur mutige Ärzte, die nicht Häftlinge waren. Die Formel »alimentäre Distrophie« sprachen die Ärzte von der Kolyma erst viel später aus – nach der Leningrader Blockade, während des Kriegs, als man es für möglich hielt, die wahre Todersursache, wenn auch auf Latein, zu nennen. »Das Brennen einer Kerze, die verlöscht, Symptome und die trockne Liste dessen, Was für den Arzt alimentäre Dystrophie, Doch für den Nichtlateiner anders heißt, Auf Russisch – ›Hunger‹«. Diese Verse von Vera Inber habe ich viele Male rezitiert. Um mich herum gab es längst keine Menschen mehr, die Gedichte mochten. Aber diese Verse hatten für jeden Kolyma-Bewohner Klang.
    Die Arbeiter wurden von allen geschlagen: dem Barakkendienst, dem Friseur, dem Brigadier, dem Erzieher, dem Aufseher, dem Begleitposten, dem Ältesten, dem Verwalter, dem Arbeitsanweiser – von jedem. Straflosigkeit für Schläge, wie auch Straflosigkeit für Morde demoralisiert, verdirbt die Seelen der Menschen – aller, die das getan, gesehen, gewusst haben … Die Begleitposten waren damals, nach dem weisen Gedanken irgendeiner höheren Leitung, verantwortlich für die Erfüllung des Plans. Darum prügelten forschere Begleitposten den Plan mit dem Gewehrkolben durch. Andere Begleitposten verfuhren noch schlimmer – sie übertrugen diese wichtige Verpflichtung auf die Ganoven, mit denen die Brigaden von Artikel 58 immer durchsetzt wurden. Die Ganoven arbeiteten nicht. Sie sorgten für die Erfüllung des Plans. Sie liefen mit einem Stock durch die Grube, dieser Stock nannte sich »Thermometer«, und verprügelten die demütigen
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. Sie prügelten auch zu Tode. Die Brigadiere – unsere eigenen Kameraden – versuchten mit allen Mitteln, der Leitung zu zeigen, dass sie, die Brigadiere – mit der Leitung sind, nicht mit den Häftlingen; die Brigadiere versuchten zu vergessen, dass sie – Politische sind. Aber sie waren niemals Politische. Wie im Übrigen auch der gesamte damalige Artikel 58. Die straflose Abrechnung mit Millionen Menschen gelang gerade darum, weil das unschuldige Menschen waren.
    Es waren Märtyrer, keine Helden.
    1964

Die Handschrift
    Spät nachts wurde Krist »hinter den Pferdestützpunkt« gerufen. So hieß im Lager die Hütte, die sich am Rand der Siedlung an die Bergkuppe schmiegte. Dort wohnte der Untersuchungsführer in besonders wichtigen Verfahren, wie man im Lager scherzte, denn es gab im Lager keine nicht besonders wichtigen Verfahren – jedes Vergehen, schon der Anschein eines Vergehens konnte mit dem Tod bestraft werden. Entweder Tod oder
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