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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Autoren: Warlam Schalamow
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und nicht der Untersuchungsführer. Krist hätte dieses Gespräch aufrechterhalten und erzählen wollen, wie er die Rübenschalen, die der Untersuchungsführer weggeworfen hatte, belutscht und beknabbert hat, aber er zögerte, er fürchtete, der Chef würde ihn für seine Ungezwungenheit tadeln.
    »Haben Sie dann verstanden oder nicht? Ich muss Ihre Handschrift sehen.«
    Krist begriff noch immer nichts.
    »Schreiben Sie!«, diktierte der Untersuchungsführer. »›An den Chef des Bergwerks. Häftling Krist, Geburtsjahr, Artikel, Haftdauer. Ich bitte darum, mich zu einer leichteren Arbeit zu verlegen …‹ Das genügt.«
    Der Untersuchungsführer nahm Krists angefangene Eingabe, zerriss sie und warf sie ins Feuer … Das Licht des Ofens wurde einen Moment lang heller.
    »Setzen Sie sich an den Tisch. Seitlich.«
    Krist hatte eine kalligraphische, eine Kopistenschrift, die ihm selbst sehr gefiel, aber seine Kameraden spotteten alle, dass die Schrift nicht aussehe wie die eines Professors, eines Doktors. Das ist nicht die Schrift eines Gelehrten, eines Schriftstellers, eines Dichters. Das ist die Schrift eines Gerätewarts. Sie spotteten, Krist hätte Karriere als Schreiber beim Zaren machen können, von dem Kuprin erzählt.
    Aber Krist ließ sich von den Spötteleien nicht in Verlegenheit bringen, und er gab weiter leserlich abgeschriebene Manuskripte zum Tippen. Die Stenotypistinnen lobten das, aber insgeheim machten sie sich darüber lustig.
    Die an die Hacke, an den Schaufelstiel gewöhnten Finger konnten anfangs die Feder nicht halten, aber schließlich gelang es.
    »Bei mir ist Unordnung, ein Chaos«, sagte der Untersuchungsführer. »Das weiß ich selbst. Aber Sie werden mir ja helfen, das in Ordnung zu bringen.«
    »Natürlich, natürlich«, sagte Krist. Der Ofen glühte schon, und im Zimmer war es warm. »Ich möchte rauchen …«
    »Ich bin Nichtraucher«, sagte der Untersuchungsführer barsch. »Und Brot habe ich auch keins. Sie gehen morgen nicht zur Arbeit. Ich sage dem Arbeitsanweiser Bescheid.«
    So kam Krist ein paar Monate lang jede Woche in die ungeheizte, ungemütliche Behausung des Lager-Untersuchungsführers und schrieb und heftete Schriftstücke ab.
    Der schneelose Winter 37/38 kam mit all seinen tödlichen Winden in die Baracken. Jede Nacht liefen die Einsatzleiter durch die Baracke und suchten und weckten nach irgendwelchen Listen Leute »für eine Etappe«. Von den Etappen war auch früher niemand zurückgekommen, aber hier dachte man gar nicht mehr an all diese nächtlichen Dinge – wenn Etappe, dann Etappe – die Arbeit war zu schwer, um an irgendetwas zu denken.
    Die Zahl der Arbeitsstunden wurde erhöht, Begleitposten tauchten auf, doch die Woche verging, und Krist schleppte sich halbtot ins vertraute Kabinett des Untersuchungsführers und heftete Schriftstücke ab. Krist wusch sich nicht mehr, er rasierte sich nicht mehr, aber der Untersuchungsführer schien die eingefallenen Wangen und den flackernden Blick des hungrigen Krist nicht zu bemerken. Und Krist schrieb und schrieb, heftete ab. Die Zahl der Schriftstücke und Aktendeckel wuchs und wuchs, sie zu ordnen war unmöglich. Krist schrieb unendliche Listen ab, die nur Familiennamen enthielten, und oben war die Liste umgeknickt, und Krist versuchte niemals, das Geheimnis dieses Kabinetts zu ergründen, obwohl er nur das Blatt hätte aufbiegen müssen, das vor ihm lag. Manchmal nahm der Untersuchungsführer einen Stapel »Akten« in die Hand, die von unbekannt wo, ohne Krists Beteiligung, gekommen waren, und diktierte eilig Listen, und Krist schrieb.
    Um zwölf war das Diktat beendet, und Krist ging in seine Baracke und schlief und schlief – mit dem morgigen Ausrücken hatte er nichts zu tun. Es verging Woche um Woche, und Krist wurde dünner und dünner, schrieb und schrieb.
    Doch eines Tages, als der Untersuchungsführer gerade einen Aktendeckel in die Hand genommen hatte und den nächsten Namen lesen wollte, stockte er. Er sah Krist an und fragte:
    »Wie ist Ihr Vor- und Vatersname?«
    »Robert Iwanowitsch«, antwortete Krist lächelnd. Wollte ihn der Untersuchungsführer mit Robert Iwanowitsch ansprechen anstatt mit Krist oder Sie – es hätte Krist nicht gewundert. Der Untersuchungsführer war jung, er hätte Krists Sohn sein können. Den Aktendeckel noch immer in der Hand, sprach der Untersuchungsführer keinen Namen aus, aber wurde bleich. Er wurde bleich und bleicher, bis er weißer war als der Schnee. Mit schnellen Fingern
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