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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Autoren: Warlam Schalamow
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vollständiger Freispruch. Wer konnte im Übrigen von seinem vollkommenen Freispruch reden. Auf alles gefasst, gleichgültig gegen alles, lief Krist den schmalen Pfad entlang. Dort im Küchenhäuschen brannte Licht – wahrscheinlich fängt jetzt der Brotschneider an, die Ration für das Frühstück zu schneiden. Für das morgige Frühstück. Wird es für Krist einen morgigen Tag und ein morgiges Frühstück geben? Er wusste das nicht und freute sich über sein Nichtwissen. Krist stieß an etwas, das kein Schnee oder Eisbrocken sein konnte. Krist bückte sich, hob eine gefrorene Kruste auf und begriff sofort, dass das eine Rübenschale, eine vereiste Rübenhaut war. Das Eis taute schon in seinen Händen, und Krist schob sich die Schale in den Mund. Beeilen brauchte er sich offensichtlich nicht. Krist lief den gesamten Pfad entlang, von der letzten Baracke her, ihm war klar, dass er, Krist, diesen langen Schneeweg als erster ging, dass heute vor ihm noch niemand hier gegangen war, um die Siedlung herum zum Untersuchungsführer. Auf dem gesamten Weg lagen, festgefroren am Schnee, wie in Zellophan gewickelte Rübenstückchen. Krist fand ganze zehn – manche größer, manche kleiner. Schon lange hatte Krist keine Menschen mehr gesehen, die Rübenschalen in den Schnee werfen würden. Das hatte kein Häftling getan, sondern natürlich ein Freier. Vielleicht der Untersuchungsführer selbst. Krist kaute und aß all diese Schalen, und in seinem Mund duftete es plötzlich nach etwas längst Vergessenem – nach heimatlicher Erde, nach rohem Gemüse –, und in freudiger Stimmung klopfte Krist an die Tür der Hütte des Untersuchungsführers.
    Der Untersuchungsführer war mittelgroß, hager, unrasiert. Hier war nur sein Dienstkabinett und ein Eisenbett, mit einer Soldatendecke bedeckt, und ein zerdrücktes schmutziges Kissen … Der Tisch – ein selbstgebauter Schreibtisch mit schiefen Schubladen, vollgestopft mit Schriftstücken und irgendwelchen Aktendeckeln. Auf dem Fensterbrett ein Zettelkasten. Das Regal ebenfalls überhäuft mit vollgestopften Aktendeckeln. Ein Aschenbecher aus einer halben Konservendose. Eine einfache Uhr am Fenster. Die Uhr zeigte halb elf. Der Untersuchungsführer heizte den eisernen Ofen mit Papier an.
    Der Untersuchungsführer war weißhäutig und blass wie alle Untersuchungsführer. Weder Ordonnanz noch Revolver.
    »Setzen Sie sich, Krist«, sagte der Untersuchungsführer, er siezte den Häftling, und schob ihm einen alten Schemel hin. Er selbst saß auf einem Stuhl, einem selbstgebauten Stuhl mit hoher Lehne.
    »Ich habe Ihre Akte durchgesehen«, sagte der Untersuchungsführer, »und ich mache Ihnen einen Angebot. Ich weiß nicht, ob es Ihnen zusagt.«
    Krist wartete gebannt. Der Untersuchungsführer schwieg.
    »Ich muss noch etwas über Sie wissen.«
    Krist hob den Kopf und konnte ein Rülpsen nicht unterdrücken. Ein angenehmes Rülpsen – mit dem unwiderstehlichen Geschmack der frischen Rübe.
    »Schreiben Sie eine Eingabe.«
    »Eine Eingabe?«
    »Ja, eine Eingabe. Hier ist ein Blatt Papier, hier eine Feder.«
    »Eine Eingabe? Was betreffend? An wen?«
    »An irgendwen. Oder wenn keine Eingabe, dann ein Gedicht von Blok. Na, ganz egal. Verstanden? Oder Puschkins ›Vögelchen‹:
    Ich öffnet’ gestern das Verlies
    Für meine luftige Gefangne
    Und gab zurück die Sängerin
    Den Hainen, gab ihr selbst die Freiheit«
    deklamierte der Untersuchungsführer.
    »Das ist nicht Puschkins ›Vögelchen‹«, flüsterte Krist, alle Kräfte seines ausgetrockneten Hirns anspannend.
    »Von wem sonst?«
    »Von Tumanskij .«
    »Tumanskij? Das höre ich zum ersten Mal.«
    »A-a, Sie brauchen eine Expertise? Ob ich es war, der irgendjemanden umgebracht hat? Oder einen Brief in die Freiheit geschrieben. Oder einen Einkaufsscheck für die Ganoven hergestellt.«
    »Keineswegs. Expertisen dieser Art sind für uns kein Problem.« Der Untersuchungsführer lächelte und zeigte das geschwollene Zahnfleisch, die kleinen Zähne, das blutende Zahnfleisch. Wie winzig dieses aufblitzende Lächeln auch war, es gab dem Zimmer ein wenig mehr Licht. Und Krists Seele auch. Unwillkürlich schaute Krist dem Untersuchungsführer in den Mund.
    »Ja«, sagte der Untersuchungsführer, der den Blick auffing, »Skorbut, Skorbut. Der Skorbut geht hier auch an den Freien nicht vorüber. Es gibt kein frisches Gemüse.«
    Krist dachte an die Rübe. Die Vitamine – die Rübenschale hat davon mehr als das Fleisch – hatte Krist abbekommen
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