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Kryson 04 - Das verlorene Volk

Titel: Kryson 04 - Das verlorene Volk
Autoren: Bernd Rümmelein
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brannten vor Anstrengung. Des Öfteren musste er die Tränen wegblinzeln, die sich in den letzten Horas immer wieder aufs Neue gebildet hatten und die Schriftzeichen vor seinen Augen verschwimmen ließen. Die Luft in der Kammer war schlecht. Stickig stellte einen zu milden Ausdruck dar; es roch nach Zerfall, muffigen Stoffen und alten Schriften. Diffus flackerte das Licht zweier links und rechts des Stehpults rußender Kerzen. Sie schienen die einzige Ursache, die für Bewegung in der Kammer sorgte. In ihrem Schein huschten Schatten an den feuchten Wänden des Gemäuers entlang, vereinten sich mit den von der Decke hängenden, mit Staub bedeckten Spinnweben und verschwanden nur Augenblicke später auf Nimmerwiedersehen in den dunkelsten Ecken der Kammer.
    Er wagte kaum sich zu bewegen, geschweige denn tief Luft zu holen, um die umliegenden Staubschichten nicht aufzuwirbeln. Das war eine lästige Ablenkung, denn die vor ihm liegenden Schriftrollen erforderten seine ganze Aufmerksamkeit sowie das geschulte Auge und die Erfahrung eines Atramentors, eines Schriftenmeisters der Sonnenreiter. Immerhin hatte er eine wichtige Aufgabe im Verlies des hohen Vaters zu erledigen. Selbst für einen Meister der Schriftgelehrten bot sich eine Gelegenheit wie diese nur selten.
    Mehr als dreißig Sonnenwenden hatte er nach Abschluss seiner Adeptenzeit in den Verliesen des hohen Vaters verbracht. Kaum ein anderer Ordensbruder kannte sich im Labyrinth so gut aus wie der Atramentor. Ohnehin waren sie nur noch wenige Brüder, die sich dieser für den Orden doch so entscheidenden Aufgabe, der Pflege der Schriften, widmeten und damit – so nahm er an – der eigentlichen Wahrung des Erbes Ulljans am nächsten standen.
    Die Zeiten auf Ell hatten sich geändert. Sehr sogar. Seit Ende des Krieges und den immer noch spürbaren Folgen der Zeit der Dämmerung war der Nachschub an geeigneten Schülern knapp geworden. Der Zulauf war zu keiner Zeit sonderlich hoch gewesen, aber in diesen Sonnenwenden hatte es die Atramentoren besonders schlimm getroffen. Die Bereitschaft der Nno-bei-Klan, sich dem Orden anzuschließen und einem Leben im Labyrinth und dem geschriebenen Wort zu widmen, war noch weiter als bisher gesunken. Dabei war es für einen Klan höchst ehrenwert, zu den Atramentoren zu gehören, die von jeher für ihre Kunstfertigkeit, ihre Bildung und das Wissen allerorts bewundert wurden. Sie mischten ihre Tinkturen selbst, die sie für das Anfertigen der Schriften brauchten. Aber die Atramentoren schrieben nicht nur, beherrschten die alten Sprachen oder übersetzten die Werke, sie zeichneten auch und malten und hielten so die Ereignisse nicht nur im Wort, sondern auch im Bild fest. Der eine mehr, der andere weniger, je nach persönlichem Talent und Neigung.
    Ihr Rat war gefragt. Niemand – außer dem Rat der Alten vielleicht – kannte sich in der Geschichte des Kontinents Ell besser aus als ein Atramentor, denn sie hatten Zugang zu einer schier unermesslich großen Anzahl an Schriften in den Archiven des Ordens. Die Behauptung, der Orden habe an Bedeutung und Einfluss verloren, war gewiss von unterschiedlichen Interessen und falschen Wahrnehmungen fehlgeleitet. Dennoch hatten viele Klan während des Krieges ihr Leben gelassen oder waren von der Seuche dahingerafft worden. Zu viele, wenn es nach dem Meister der Schriften ging. Andere Dinge waren wichtiger geworden und bestimmten ihr Leben. Die meisten Überlebenden hatten vor vielen Sonnenwenden begonnen, sich ein neues Leben aufzubauen. Fern der Dörfer und Städte, aus denen sie ursprünglich stammten. Sie waren durch die Klanlande gezogen und hatten sich an neuen Ortenangesiedelt. An Orten, von denen sie sich ein besseres Leben erhofften und vor allen Dingen wo sie die Vergangenheit vergessen wollten.
    Der Orden hatte die Wünsche der überlebenden Nno-bei-Klan früh erkannt und respektierte diese. Alles andere wäre ein Fehler gewesen. Insbesondere deshalb hatte das Werben neuer Ordensbrüder und -schwestern in den vergangenen Sonnenwenden nachgelassen, und wenn die Sonnenreiter und Bewahrer vor die Tore der Häuser getreten waren, dann hatten sie sich im Wesentlichen darauf besonnen, die kämpfende Truppe zu verstärken und vornehmlich den Bestand an Bewahrern zu sichern. Die wenigen Talente, die eine Befähigung zum Bewahrer aufwiesen, waren mittlerweile ohnehin nur noch rar gesät. Das allerdings war aus der Sicht des Overlords weit wichtiger als die Suche nach Schriftgelehrten mit
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