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Kruzifix

Kruzifix

Titel: Kruzifix
Autoren: Xaver Maria Gwaltinger
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dreißig Metern hoch sein. An
ihrem Ende ist die ›Funkenhex‹ befestigt. Das ist eine aus Stroh gefertigte und
mit alten, bunten Kleidungsstücken ausstaffierte Puppe. So gegen neunzehn Uhr
zieht dann die ganze Gemeinde mit brennenden Fackeln zum Funken und zündet ihn
an. Nun beweist sich die Kunst der Funkenbauer, je länger der Funken braucht,
um ganz abzubrennen, desto besser wurde er gestapelt. Im Bauch der Hexe
befindet sich manchmal Schießpulver. Erreichen die Flammen die Hexe, explodiert
sie mit einem heftigen Knall.«
    »Puh, das ist ja ganz schön martialisch«, sagte Alexandra, »zumal
ich zu wissen glaube, dass die letzte Hexenverbrennung in Deutschland
ausgerechnet in Kempten stattgefunden hat. Das ist doch schon ein bisschen
makaber, oder?«
    Jo nickte. »Ja, aber historisch gibt es gar keinen Zusammenhang. Der
älteste Beleg für den am Funkensonntag stattfindenden Feuerbrauch stammt aus
einem lateinischen Brandbericht des Benediktinerklosters Lorsch aus dem Jahr
1090. Weitere Belege gibt es aus dem 15. Jahrhundert aus Basel sowie aus dem
16. und 17. Jahrhundert aus Bregenz und Innsbruck. Der Brauch war damals viel
weiter verbreitet als heute. Erst mit der Aufklärung wurde er zurückgedrängt.
Die Verbrennung einer Hexenpuppe auf dem Funken ist aber nicht ein Rest der
schrecklichen Hexenverbrennungen der frühen Neuzeit, sondern vermutlich erst im
19. Jahrhundert in Anlehnung an die Fasnacht entstanden. Die Puppe sollte
einfach bunt aussehen und gaudig – wie es in einer Quelle heißt. Nach dem
Ersten Weltkrieg ließ der Brauch des Funkenabbrennens stark nach. Aufgrund des
allgemeinen Holzmangels war er sogar einige Jahre verboten.«
    »Und wozu dient das Ganze nun?«, wollte die Schupfnudel wissen.
    »Tja, da streiten sich die gelehrten Geister. Einige behaupten, der
Funkensonntag sei das Relikt eines germanischen Frühlingskultes oder eines
heidnischen Neujahrsfestes. Die wahrscheinlichste Version deutet den Funken in
engem Zusammenhang mit der Fasnacht. Und dann gibt es noch eine ganz profane
Interpretation, die wohl auch zutrifft: Der Funken diente zur Verbrennung von
Unrat. Heute noch werden alte Christbäume in den Funken geworfen, und das Ganze
hat somit wirklich etwas mit der Frühjahrsreinigung von Haus und Hof zu tun.«
    »Das wäre dann aber eine ziemliche Entzauberung«, meinte Alexandra.
    »Ja, das sehe ich auch so, und die Interpretation des
Winteraustreibens gefällt mir besser. Außerdem hat der Funken einfach was mit
der Identität der alemannischen Stämme zu tun. Ein Freund aus Wien hat mir
erzählt, dass eine Weile lang die in Wien lebenden Vorarlberger auf der
Himmelwiese in Wien einen Funken abgebrannt haben.«
    »Tu felix Vorarlberg«, sagte Jens lachend. »Und was haben die Wiener
dazu gesagt?«
    »Es verboten trotz ihrer morbiden Zentralfriedhofsmentalität,
irgendwie war der Funkenflug zu stark«, gab Jo grinsend zur Antwort.
    Sie entspannte sich allmählich etwas. Das Reden und Erklären tat ihr
gut, vielleicht würde die ganze Pressereise ja doch noch ein Erfolg werden.
    »Ist das dann hier nicht auch gefährlich?«, fragte die junge
Praktikantin.
    »Nein, die Funken stehen immer weit außerhalb des Ortes, die
Feuerwehr ist präsent und die Funkenwache auch. Ach ja, die ist übrigens
besonders wichtig, denn sie muss in der Nacht von Samstag auf Sonntag den
Funken bewachen. Wenn es nämlich der Nachbargemeinde gelingt, den Funken
vorzeitig anzuzünden, ist das eine höllische Schmach. Ungefähr so, als wenn die
Nachbarn einen Maibaum klauen«, brachte Patti sich nun ein – sie hatte sich
offenbar wieder gefangen.
    Ohne auf das gerade Gesagte einzugehen, hob nun Mister TE VAU an: »Ich möchte aber Wert darauf
legen, dass es definitiv nicht zu leugnen ist, dass mit Aschermittwoch eine
Zeit der Reinigung beginnt und die Tage nun tatsächlich schon merklich länger
werden. Ich präferiere die Version mit dem Feuergeist, der in den Himmel
hochsteigt und den Kampf gegen die Dunkelheit beginnt.«
    Er schaute seinen Kameramann strafend an, so als sollte der gefälligst
den Feuergeist auf den Film bannen.
    »Na, dann wollen wir ihn mal aufsteigen sehen, den Feuergott«, stieß
Jo hervor, nickte Patti zu und rief zum Aufbruch.
    Draußen hatten sich bereits an die achtzig Personen versammelt.
Fackeln wurden ausgegeben. Patrizia verteilte eilfertig Regenschirme mit dem
Aufdruck »Ob’s stürmt oder schneit, des Allgei macht Freid«.
    Gerhard hatte seine antike Antiklederjacke
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