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Kruzifix

Kruzifix

Titel: Kruzifix
Autoren: Xaver Maria Gwaltinger
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Heulkrämpfen.
    »So schlimm?«
    Sie nickt mit dem Kopf.
    Heult.
    Sie ist nicht alt, aber grau. Höchstens Mitte vierzig, schätze ich. Graue, schulterlange Haare. Graues Kostüm. Graues Gesicht.
    Grau, grau, grau sind alle meine Kleider …
    Ich sage:
    »Wenn S’ wollen, können S’ reden … Egal was.«
    Sie schüttelt den Kopf. Schluchzt. Rotz läuft ihr aus der Nase.
    Ich nehme mein Taschentuch aus der Hosentasche und wische ihr den Rotz ab.
    Sie heult noch mehr.
    Ich bin froh, dass ich ein frisches Taschentuch eingesteckt habe. Gewohnheit von früher. Meine Mutter hat mich sonntags nur mit einem sauberen Taschentuch aus dem Haus gelassen. Und mit frischen Unterhosen. Falls was passiert. Welche Schande, wenn der Notarzt Unterhosen mit Bremsspuren sähe. Oder gar die junge Notärztin. Ja, meine Mutter hatte schon recht!
    »Nein … nein … nein …«
    Wenigstens fängt sie an zu reden.
    »Ganz kalte Hände haben Sie!«
    Sie heult gleich noch mehr.
    »Nein … nein … nein …«
    »Nein …«
    »Der Christus …«
    »Was ist mit dem Christus?«
    »Am Kruzifix ist er …«
    »Am Kruzifix?«
    »Am Kruzifix!«
    Wieder ein Heulkrampf.
    Ich denke: Kruzifix noch mal! Red halt endlich!
    Ich sage: »Lassen Sie sich Zeit! Pressiert nicht … Am Kruzifix …?«
    »… ist er … ist er …«
    »Am Kruzifix ist er …«
    »G’hängt!«
    »Am Kruzifix ist er g’hängt?!«
    Sie nickt und heult und nickt. Sagt:
    »Am Kruzifix. Drüber.«
    »Überm Kruzifix?«
    »Vorm Kruzifix!«
    Die Eiseskälte ist aus ihren Händen gewichen. Ihr Gesicht ist etwas weniger kalkweiß. Gedeckt weiß. Grau.
    Grau, grau, grau ist alles, was ich hab …
    Ich: »Hmm, hmm, hmmm.«
    Die Standardintervention des Psychoanalytikers. Wirkt immer.
    »Ich bin schon vor sieben in der Früh da gewesen. Noch proben. An der Orgel. Ich mach die Kirchentür auf, lang ins Weihwasser, Kniefall … schau auf … und seh …«
    »Das Kruzifix. Den Christus …?«
    »Ich denk, ich seh doppelt. Ich denk, ich träum. Ich denk, das gibt’s doch nicht, ich denk, du spinnst …!«
    »Aber dann haben Sie was gesehen … was Furchtbares …«
    »Ja … Er hängt mit dem Christus am Kreuz …«
    »Wer?«
    »Der Theo!«
    Und wieder wird sie geschüttelt. Von einem Weinkrampf. Heftig. Wie von einem inneren Erdbeben.
    Darum lieb ich alles, was so grau ist …
    »Der Theo?!«
    Ich putze ihr noch mal die Nase.
    »Ja, der Theo … in seinem Messgewand … und blau im Gesicht, und die Zunge …«
    »Die Zunge hing raus?«
    Sie nickt.
    »Hat er sich erhängt?«
    »Weiß nicht … er ist da gehangen … aufgehängt … warum … aufgehängt … ich weiß es nicht …«
    »Und der Theo … im Messgewand … meinen S’ den Pfarrer!«
    Sie schreit mich an:
    »Ja wen denn sonst, du Depp! Wer bist du denn eigentlich? Was fragst denn so saudumm?«
    Es geht ihr wieder besser.
    »Ich bin der Notfallseelsorger.«
    »Ich brauch kein Seelsorger … hau ab … ich will kein Seelsorger … ich will den Theo wieder … ich will den Theo zurück … zurück … zurück …«
    Ich nehme sie in den Arm.
    »Hast’n g’mocht, den Theo?«
    Schreit wie am Spieß, ihr Gesicht wird eine hässliche Fratze. Dann wird sie ohnmächtig.
    Weil mein Schatz ein Priester, Priester ist.
    Ich rufe nach den Sanitätern. Sie haben den Schrei gehört, sind mit einer Bahre da. Sie transportieren sie ab. Sie ist wieder käsweis. Graukäsweis.
    Die Ärztin schaut vorbei.
    Schnippisch sagt sie:
    »So, so … die Seelsorge. So schaut also eure Seelsorge aus.«
    Dreht sich um und lässt mich stehen. Ich ziehe meine Jacke wieder an. Sie war der Organistin von den Schultern gerutscht. Mein Taschentuch ist weg.
    Der Pfarrer war’s also. Erhängt. Im Messgewand. Am Kruzifix. Näher, mein Gott zu dir geht’s nicht.

Sau sticht
    Um zehn hatte sich der Auflauf wieder verlaufen. Die Leiche war weg, die Polizei, die Sanitäter, die Notärztin, die Feuerwehr schon lange. Nur die Notfallseelsorge war noch da.
    Ich.
    Ob der Frühschoppen wohl stattfindet?
    Ich schaute beim Wirt vorbei. »Zum Schwarzen Adler«. Durchs Fenster sah ich die Neonröhre über der Ausschank brennen. Rechts und links vom Eingang standen schwarze Tafeln. Mit Kreide war darauf geschrieben, was es gab.
    Makrelen vom See.
    Hausgemachter Käse.
    Schnitzel mit Pommes und Salat und Dessert für fünf Euro fünfzig.
    Boote zum Verleihen.
    Zum See waren es fünfhundert Meter, abfallend zwar, aber trotzdem fragte ich mich, wie man ein Boot
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