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Kruzifix

Kruzifix

Titel: Kruzifix
Autoren: Xaver Maria Gwaltinger
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ohne Wasser fünfhundert Meter weit befördern kann. Wahrscheinlich mietete auch kein Mensch einen Kahn. Aber das Schild vermittelte das Gefühl von Ferien: »Bootsverleih«.
    Ich trat in die Wirtsstube.
    Einrichtung der fünfziger Jahre. Resopal-Tischplatten. Eine Kuchenvitrine aus Glas ohne Kuchen. Ein gerahmtes Bild. Von einem Rottweiler. Verfolgen einen die Köter sogar ins Wirtshaus! Reicht schon beim Joggen. Im hinteren Eck, wo früher wohl der Herrgottswinkel war, hing ein Fernseher an der Wand. Tot. Er lief jedenfalls nicht. Noch nicht.
    Am Ecktisch saßen Männer. Bauern. Alt. Jedenfalls nicht mehr jung. Einer mischte die Karten. Die Wirtin stellte die gefüllten Halbekrüge und bauchigen Weizengläser vor die Kartler.
    »Heut seid ihr aber früh dran!«, sagte sie.
    »Wenn die Kirch ausfällt …«
    »Ja, ich hab’s gesehen. Feuerwehr, Sanitäter, Polizei. Hat’s gebrannt? Oder ist jemand umgefallen?«
    »Kann man so sagen …« Der Sprecher lachte, als hätte er einen Witz gemacht.
    Die anderen grinsten verlegen.
    »Der Pfarrer …«
    »Was ist mit dem Pfarrer?«
    »Der Datschi …«
    »Der Theo? Umgefallen?«
    Die Wirtin erstarrte in ihrer Bewegung.
    Ich setzte mich an den übernächsten Tisch. Abseits. Allein.
    »Umgefallen und liegen geblieben«, sagte der, der die Karten mischte.
    »Hi.«
    »Wia hi?«
    Die Wirtin trug nicht das stereotyp gefüllte Barock-Dirndl wie auf den Postkarten, sie war eher von gotischer Bauart. In Jeans. Richtig blass war sie geworden unter ihrer roten Mähne.
    »Halt hi.«
    »Tot«, erklärte ein anderer, als verstünde die Wirtin das schwäbische »hi« nicht, wie »hin«, kaputt, da- hin -gegangen.
    »Er war zugedeckt. Auf der Bahre, Tuch überm Gesicht. So haben sie ihn weggebracht.«
    »Wohin?«, fragte die Wirtin.
    Man sah, sie glaubte nicht, was sie hörte.
    »Nach Kempten halt. Ins Krankenhaus.«
    »Oder gleich auf den Friedhof.«
    »Nein, der muss zuerst ins Krankenhaus. Da schneiden sie ihn auf, und dann kommt er in so ein Schubfach und kriegt einen Zettel an den großen Zeh. Dass er nicht verwechselt wird. Das weiß ich. Vom ›Tatort‹. Da geht das auch immer so.«
    Die Wirtin ließ nicht locker:
    »Und warum ist er hi?«
    »Man weiß es nicht. Keiner weiß was. Und die Polizei sagt nix, und der Messner ist dann auch noch zusammengebrochen, wie’s vorbei war.«
    »Der Adolf?«
    »Ja, der Adolf. Aber der hält sowieso nix mehr aus, der ist bloß noch Haut und Knochen.«
    »Mit seiner Prostata«, warf ein anderer ein.
    »Ich hab zuerst denkt, den hat’s erwischt. So, wie der ausschaut, macht er’s nimmer lang.«
    »Krebs …«
    »Prostatakrebs.«
    »Maria, bring mir an Bierwärmer!«
    »Mir auch!«
    »Mir kannst auch einen bringen.«
    »Ja, gleich. Und der Theo, warum …?«
    »Man weiß es nicht. Die Putzfrau sagt, es muss ein Herzschlag gewesen sein. Die anderen sagen, er war überarbeitet … hat so einen Brunz-aut gehabt, so was aus Amerika.«
    »Brunz-aut? Mit dem Brunzen was … also auch Prostata …?«
    Die Gebildeten unter ihren Verächtern lachten.
    »Einen Börn-aut meint er«, sagte einer, der das Gymnasium in Kempten besucht haben musste. »Sich kaputt geschafft.«
    »Blut hat man jedenfalls nicht gesehen, durchs Leintuch. Wahrscheinlich Herzschlag oder Hirnschlag.«
    »Einen Schlag hat er schon immer gehabt, der Datschi.«
    Damit war das Thema erst einmal erledigt. Die Wirtin ging Bierwärmer holen. Ich versuchte, ihren Blick zu erheischen. Ich hatte Durst. Der Kartenmischer hatte zu Ende gemischt und teilte aus. Um die vier Schafkopfspieler saßen die Kiebitze. Zuschauer.
    Sie spielten jeden Sonntag nach der Messe. Heute spielten sie anstatt der Messe. Ein paarmal war ich schon dabei gewesen. Als entfernter Zuschauer. Fremder. Tourist. Wiederholungstourist. In den Ferien. Auf Urlaub. An den Wochenenden. Sie wussten nicht, dass ich jetzt keine Ferien mehr hatte. Kein Wochenende mehr. Nie mehr Urlaub. Immer Ruhestand. Ruhe vor dem Krankenhaus, vor den letzten Ölungen, vor der Krankenhausseelsorge, vor dem Bereitschaftsdienst rund um die Uhr. Keine Psychoanalysen mehr. Nie mehr hinter der Couch sitzen. Nur noch nicht-psychoanalytische, nicht-seelsorgerliche Ruhe. Ewige Ruhe. Seit vorgestern. Keiner wusste es. Ich wollte es auch nicht wissen. »Ruhestand und Prostata« – die Melodie von »Wochenend und Sonnenschein« kam mir in den Sinn. Blöd. Auf die Melodie von »Wochenend und Sonnenschein« »Ruhestand und Prostata« singen. Ich brauchte
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