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Kruzifix

Kruzifix

Titel: Kruzifix
Autoren: Xaver Maria Gwaltinger
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Kröten. Natur pur.
    Die Kirchenglocke schlug elf Mal.
    Ein Kuckuck kuckuckte.
    Einmal. Zweimal. Dreimal. Noch mal.
    Oft.
    Beruhigend oft.
    Ich hörte in meinem Kopf noch das irre Lachen vom Toni.
    In der allgemeinen Erstarrung hatte er plötzlich angefangen, laut zu lachen.
    »Man wird doch noch einen Spaß machen dürfen!«, hatte er gesagt. »Spielt’s ruhig weiter.«
    Er hatte sich dann an einen Tisch in die andere Ecke der Wirtschaft gesetzt und in sein Bier mit dem doppelten Schnaps hineingebrütet.
    Das Schafkopfen hatte keine Fahrt mehr aufgenommen.
    Sie redeten noch dies und jenes.
    Dass die Feuerwehr als Erstes da war.
    Dass die Polizei als Letztes kam. Die A   7 von Kempten Richtung Reutte war dicht gewesen. Stau wegen Lastwagenunfall.
    Einer nach dem anderen hatte gezahlt und war gegangen.
    Ich auch.
    Ich atmete tief ein, ich schnaufte wieder. Seit Stunden das erste Mal.
    Was war das für ein Mensch gewesen, dieser Theodor Amadagio? Die graue Ohnmächtige, die mein Taschentuch mit sich genommen hatte, die Organistin, hatte eigenartig von ihm geredet. Die Wirtin wusste mit seltsamer Gewissheit, dass er nicht schwul war, die Frauen nannten ihn Theo, für die Mannsbilder war er nur der Datschi, der schwule Datschi, auf den die Weiber standen. Sie wussten weniger als ich. Ich wusste, dass er durch Erhängen gestorben war. Sie dachten, es wäre ein Herzstillstand gewesen. Oder ein Schlaganfall.
    Die Kühe trotteten auf mich zu. Machen sie immer. Oder schauen mich einfach an. Kälber mit großen schönen Augen und langen Wimpern. Die letzten Wesen, die mir noch nachschauen. Im Ohr hatten sie gelbe Plaketten stecken. Mit einem schwarzen Buchstaben und einer fünfstelligen Zahl drauf. Warum Zahlen? Warum nicht fünf Buchstaben? Zum Beispiel » ERIKA «. Wahrscheinlich waren Zahlen einfacher. Und es gab mehr Zahlen als Erikas, Zenzis, Liesls, Fannys und Vronis. Mit fünf Ziffern konnte man 99.999   Rindviecher erfassen. Ziemlich wenig. Oder gab es nicht mehr als – aufgerundet – hunderttausend Kühe im Allgäu? Aber dazu hatten sie ja den Buchstaben vorne. Das Alphabet, rechnete ich, hat fünfundzwanzig Buchstaben, und wenn man alle fünfundzwanzig Buchstaben nutzte, kam man auf fünfundzwanzig mal hunderttausend Rinderohrennummernschilder, fünfundzwanzig mal hunderttausend Kühe. Wie viele sind das? Ich hatte keine Lust, mich anzustrengen. Ich konnte das ohne Zettel und Bleistift nicht ausrechnen. Mit Zettel und Bleistift auch nicht. Dann halt mit meinem Laptop. Es langte auf jeden Fall für alle Kühe im Allgäu. In ganz Bayern. Vielleicht in der ganzen EU . Auch wurscht.
    Tatsache ist, erfuhr ich kurz darauf aus der Allgäuer Rundschau, dass es in Bayern 3,29   Millionen Rindviecher gibt. Vierbeinige. Das Ohrennummernschildersystem reicht nur für 2,5   Millionen. Wie haben die das Problem gelöst?
    Das größte Rindviech war jedenfalls dieser Toni. Er hatte eine seltsame Art von Humor. Schwer, darüber zu lachen. Leicht, sich zu fürchten. Warum hatte ihn die Bemerkung mit dem Schwanz hinten so aufgeregt? Und was ging in seiner Birne vor, als er über dem Bier mit dem doppelten Schnaps brütete?
    Und wieso war sich die Wirtin so sicher, dass der Theo Amadagio nicht schwul war? »Wenn der schwul war, bin ich …« Ich hätte sie fragen sollen: Was sind Sie dann? Oder: Was sind Sie denn? Auch schwul? Ich musste noch mal in die Wirtschaft zurück. Wenn keiner da ist. Nachmittags ist meistens keiner da. Wusste ich von früher.
    Aber was ging mich die ganze Geschichte an?
    Der Frühschoppen war auf jeden Fall versaut. Ich schwitzte wie eine Sau und zog mir die Jacke aus. Die Jacke, die ich der grauen Organistin umgelegt hatte. Das Taschentuch fehlte. Hätte ich jetzt brauchen können. Bergauf. In der Sonne. Der Schweiß brannte mir in den Augen.
    Was machte ich bloß mit dem Rest vom Sonntag? Mein erster Sonntag im Ruhestand.
    Arbeiten wollte ich nicht. Arbeiten durfte ich nicht. Wegen des Sabbatgebots. Es stammte noch aus meiner aktiven Zeit, die gerade drei Tage hinter mir lag. Am Sonntag wird nicht gearbeitet. Nichts. Aber was mach ich dann?
    Wandern? Langweilig.
    Mountainbike fahren? Zu anstrengend.
    Joggen? Mit Bier im Bauch hatte ich keine Lust, das gluckert so komisch.
    Lesen? Gut, aber den ganzen Nachmittag?
    Pornos anschauen? Ich kannte sie schon alle. Musik- CD s kann ich immer die gleichen hören, stundenlang, weil ich mir keine Melodie merken kann (außer »Wochenend und Sonnenschein«). Aber
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