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Kruzifix

Kruzifix

Titel: Kruzifix
Autoren: Xaver Maria Gwaltinger
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Allgäu, sonst hätte Jo diesen Job nie mit Überzeugung
angenommen, aber Tourismus ist ein wankelmütiges Kind, und andere Mütter haben
eben auch schöne Bergwelten. Wie sollte man jemandem die Begeisterung für eine
kleine unspektakuläre Welt vermitteln, wenn er gerade vom Radfahren in Ladakh
zurückkam?
    Gerhard hatte die Szene immer wieder aus dem Augenwinkel beobachtet,
und wegen der Lautstärke konnte er gar nicht anders als zuzuhören. Der eiskalt
aussehende Typ erzählte gerade vom besten »Mai Thai«, an den er sich erinnern
könne. Letzte Woche in K.L. sei
das gewesen. Es dauerte ein bisschen, bis Gerhard klar wurde, dass der Typ K.L. für Kuala Lumpur sagte. Was für ein
Trottel! Und es kam noch schlimmer. Er erklärte gerade, dass er ein
investigativer Journalist sei, einer der anpackte und Missstände packend
aufdeckte. Sollten Reisegeschichten nicht einfach Laune machen auf Ferien?,
dachte Gerhard bei sich.
    »Tja, Sie sind eben eine Edelfeder«, hörte Gerhard den Blonden
sagen. Das war wohl ironisch gemeint, was dem anderen aber komplett zu entgehen
schien. Gerhard beobachtete Jos Reaktion, und es gefiel ihm nicht, wie sie den
Blonden anlachte. Gerhard suchte ihren Blick, aber sie hatte bloß Augen für den
blonden Journalisten mit den Sommersprossen. So blieb Gerhard nur, die Gruppe
weiter zu beobachten. Die Techtler auf der Bank waren wahrscheinlich harmlos,
aber natürlich nur aneinander interessiert, und die junge Dame in diesem Duo
wurde binnen einiger Minuten als Volontärin, Kollegin und später als Fotografin
vorgestellt. Musste ja ein Tausendsassa sein, dachte Gerhard. Er war zumindest
ein Tausendfinger, was die Aktivitäten unter dem Tisch betrafen. Himmel, er
beneidete Jo nicht um ihren Tourismus-Job!
    Jo war tatsächlich im Stress – vor allem wegen dieses glatzköpfigen
Hünen. Er war von einer Norddeutschen Fernsehproduktion und ließ keinen Zweifel
daran, dass er überirdisch wichtig war. TV ,
also TE VAU , mit Ehrfurcht sollte
man sich das auf der Zunge zergehen lassen. Er drehte – leider! – jedes Jahr im
Allgäu einen Film und war deshalb für Jos Bürgermeister, Obmänner und Hoteliers
so was wie ein Messias, eine Lichtgestalt. Sie selbst sah ihn heute zum ersten
Mal live. Sie kannte nur seine Filme. Die waren immer gleich.
    Endlos schwenkte die Kamera über endlose Höhenzüge und blieb dann an
einem Gipfelkreuz hängen. Da stand dann er mit dem Mikro. Neben ihm kauerte ein
verwirrt aussehender Senn. In einem bewusst aufgesetzten Preißn-Bayrisch fragte
er dann: »S’ischt einsam do heroben?«
    Die Kamera schwenkte weiter, und Stunden später sagte der Senn:
»Jawohl«.
    Dann er einfach meisterlich: »Find ma schwer a Frau do heroben?«
    Das Gipfelkreuz herangezoomt, dann der Senn, und Stunden später die
Antwort: »Jawohl«.
    Hier handelte es sich um Meisterwerke der Dialogkunst! Nett waren
allein die Kameramänner. Einer von ihnen war auch heute dabei. Aber den – wie
alle anderen – drängte Mister TE VAU stets in den Schatten.
    Jo trat die Flucht nach vorn an und bestellte eine Runde Obstler und
dann gleich noch eine. »Damit es nachher draußen von innen auch schön warm
wird«, versuchte sie es im Plauderton. Was für ein Schmarrn, dachte sie, es
waren etwa sieben Grad plus, und es schüttete. Das war an sich schon eine
Katastrophe, aber sie wollten zum Funken. Wo die Macht des lodernden Feuers den
Winter auszutreiben hatte. Ein perfider Witz: Da war nichts mehr auszutreiben,
der Winter hatte bis dato kaum stattgefunden. Dennoch hob Jo an, den Anwesenden
den Sinn und Ursprung des Funkens zu erklären.
    »Das Funkenfeuer wird als heidnischer Kult zur Vertreibung des
unliebsamen, strengen und eiskalten Winters gedeutet und hat sich im Allgäuer
Raum, im Schwarzwald, in der Ostschweiz, in Vorarlberg sowie im Tiroler
Oberland oder auch im Vinschgau bis zum heutigen Tag als traditionelles
Brauchtum erhalten. Kaum ist die Fasnacht vorbei, beginnen die Vorbereitungen
für den alljährlichen am Funkensonntag stattfindenden Funken. Das ist immer der
erste Sonntag nach Aschermittwoch. Jede Gemeinde hat ihre Funken-Aufbauer, die
schon Wochen und Monate vorher Holzvorräte gesammelt haben. Meist am Vortag
werden sie an eine exponierte Stelle gebracht und zu einem großen Haufen
aufgeschichtet, je höher der Funken, umso besser. In die Mitte des Haufens
steckt man nun eine lange Holzstange, normalerweise die Funkentanne, die am
Faschingsdienstag geschlagen wird. Sie kann bis zu
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