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Salz der Hoffnung

Titel: Salz der Hoffnung
Autoren: Patricia Shaw
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            Boston 1788
     
     
            Das Mädchen stand vor dem großen Spiegel mit dem vergoldeten Rahmen und staunte. Sie befühlte ihren blauen chinchillabesetzten Mantel und zog die dazugehörige Haube über ihre blonden Locken, bis ihr Gesicht von dem weichen Pelz umrahmt war. Feierlich betrachtete sie ihr Spiegelbild. Es war, als sei eine unbekannte Schönheit plötzlich in ihr Leben getreten. Sie hob den Fuß und streckte ihn vor sich aus, bis er sein Gegenüber im Spiegel beinah berührte. Bewundernd betrachtete sie ihre neuen, auf Hochglanz polierten Schuhe mit den eleganten schwarzen Schleifen. Es waren zweifellos die hübschesten Schuhe, die sie je gesehen hatte.
            »Du siehst doch tatsächlich aus wie ein Engelchen«, rief Jessie lachend. »Aber du mußt dich jetzt auch so benehmen, Missy. Das ist eine richtig vornehme Schule, da läßt man sich deinen Schabernack nicht bieten. Du bist jetzt eine junge Dame.«
            Jessie war Großmutters Hausmädchen, und sie war alt, ebenso alt wie ihre Großeltern, doch Regal mochte Jessie lieber. Die Großeltern waren ganz in Ordnung für alte Leute, aber Großvater hatte nie Zeit, und Großmutter fand immer irgend etwas an ihr auszusetzen. Regal vermutete, sie waren erleichtert, daß sie jetzt ein großes Mädchen war – heute war ihr neunter Geburtstag – und sie sie zur Schule schicken konnten. Regals früheste Erinnerungen waren Großmutters Ermahnungen an Jessie und Mrs. Hobway, die Köchin, ihr doch endlich dieses Kind aus dem Wege zu schaffen. Und das war seltsam, denn sie konnte sich überhaupt nicht entsinnen, irgendwem je den Weg irgendwohin versperrt zu haben. Aber so war das eben: keiner hatte sich besondere Mühe gegeben, vor ihr zu verbergen, daß sie für die Menschen in diesem großen Haus – ihrem Heim – eine Plage war. Sie war ein einsames Kind und manchmal war sie wütend, daß sie keine Eltern hatte wie andere Kinder auch, Eltern, die sie liebten und verwöhnten und ihr Geschichten vorlasen. Jede Wette, wenn die arme Polly noch am Leben wäre, wäre sie die beste Mutter auf der ganzen Welt …
            »Hier ist dein Muff«, sagte Jessie. »Auch aus Chinchilla. Er hat innen eine Tasche, ich habe dein Taschentuch hineingesteckt.«
            Großmutter kam herein und sie sah ebenfalls sehr fein aus in ihrem besten braunen Seidenkleid mit dem weiten Reifrock. »Ist sie fertig?«
            »Ja, Ma’am«, sagte Jessie, und Großmutter nickte. »Also, dann komm, Missy. Dein Großvater wartet.«
            Sie stiegen die breite Treppe hinab. Regals Schuhe rutschten auf dem Teppichbelag, und sie klammerte sich am Geländer fest, aber als sie die Halle auf dem Weg zu Großvaters Arbeitszimmer durchquerten, vergnügte sie sich mit einer Schlitterpartie.
            »Geh anständig«, fuhr die Großmutter sie an. »Und halte dich gerade.«
            Regal mochte dieses geheimnisvolle Zimmer gern. Den Geruch von alten Büchern und Papier, die faszinierenden Schubladen und die kleinen Fächer in Großvaters Schreibtisch, den Spucknapf und den schweren Messingaschenbecher, der wie Gold glänzte. Auf einem niedrigen Tisch stand in einem Glaskasten das Modell eines Segelschiffes, ein Spielzeugschiff mit großen Segeln, das aber nie jemand herunternahm. Sie ließen es einfach dort auf dem Trockenen, und das Schiff wartete immer noch darauf, erprobt zu werden, und sei es nur auf einem Tümpel. Das arme Schiff tat Regal leid, aber sie hatte es noch niemals anfassen dürfen. Der Glaskasten blieb verschlossen. Immer.
            Großvater wandte sich mit seinem Drehstuhl um und sah sie an. Beißender Zigarrenqualm erfüllte die Luft. »Ah! Wen haben wir denn da?«
            Großmutter stieß Regal vorwärts. »Was denkst du?«
            Er rückte seine Brille zurecht und lächelte. »Ist das unser Mädchen? Ich hätte sie kaum erkannt, sie sieht ja so elegant aus! Dreh dich um, Missy, und laß dich anschauen.« Regal drehte sich einmal um die eigene Achse. »Unter dem Mantel hab’ ich ein weißes Schulkleid«, verkündete sie, als sie wieder Auge in Auge mit ihm stand. »Mit einem blauen Kittel drüber.«
            »Schürze«, verbesserte Großmutter. »Man nennt es eine Schürze, nicht Kittel.«
            »Nun, wie auch immer, ich bin überzeugt, sie wird hübscher aussehen als alle anderen Mädchen in dieser Schule. Du kannst wirklich stolz auf
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