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Kronhardt

Titel: Kronhardt
Autoren: Ralph Dohrmann
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ein Ist installiert wurde; kalibrierte Buchstaben, die sich zu kalibrierter Bedeutung reihten, Zeichen, die in Zahlen übertragen werden konnten. Oder in Informationseinheiten, wie die Löcher auf den Hollerithstreifen der Stickmaschinen, und so saß Willem zwischen seiner Mutter und Kronhardt. Sie tätschelten und sie kniffen ihn, sie lasen das Zeugnis wieder und wieder, und die Wörter glühten und zischten: Aufmerksam und mit Leichtigkeit, sagten sie, fleißig, doch nicht zu strebsam, sagten sie, und Willem saß brav dabei. Ganz so, als würden sie alles richtig machen. Auffassungsvermögen rasch, sagten die Alten, Zusammenhänge konstruiert er selbständig, und Willem stellte sich dabei die Lehrerin vor. Fräulein von Weyer, im Kostüm und mit silberblondem Haar, und die Kinder mußten aufspringen, wenn sie die Klasse betrat. Und wer ihren Gruß nicht laut genug erwiderte, den ließ sie vortreten.
    Eine unheimliche Frau, immer ein scharf gefaltetes Tuch im Kostüm, und ihr strenges Haar roch nach Festiger und Zigaretten, und wenn sie sich über einen beugte, waren ihre Zähne wie eingepflanzte Soldaten, die jedes Wort zu einem Geschoß machen konnten. Und jeden Montagmorgen ließ sie singen, stand dabei am Fenster, sah in den Himmel, und sie wußte immer, wer nicht mitsang oder im Text stolperte – unheimlich und geisterhaft, dachte Willem, genau wie die Alten.
    Auch in ihrem Haus, meinte Willem, stand dieses Fräulein von Weyer am Fenster; steckte eine Zigarette in die goldene Spitze, und während ihr Blick mit dem Rauch stieg, wurden hinter diesem Blick die Urteile gefällt. Und dann setzte sie sich, ließ ihre Soldatenzähne aufblitzen, zog Tinte in den Füller, und die Feder glitt wie von selbst über das Papier, produzierte einen Rhythmus, ein leises Stakkato, und aus dem Spalt der Feder sickerten Buchstaben in Deutscher Normalschrift, erhabene Zeichen, die sich zu ihrer Sütterlin-Wurzel bekannten, eine Kette von Zeichen und Informationen in Preußischblau; und so zog sich Spur um Spur über das weiße Papier, Haken und Zacken, die noch einmal unter der Schreibtischlampe aufglänzten, während die Lehrerin schon frische Tinte aus dem Faß saugte, um die nächste Zukunft zu besiegeln.
    So saß Willem zwischen den Alten, und sie tätschelten und kniffen ihn.
    Siegfried hatte nur ein mittelmäßiges Zeugnis bekommen, und Willem stellte sich vor, wie die dicke Mutter dastand, ihre runden Fäuste versenkt, und wie Siegfried die Tränen preßte, bis der Vater dazwischentrat, ein nagelneues Blechauto hervorholte und sagte, komm schon, Junge, so gut wie dieser Kronhardt-Bengel kannst dus allemal.
    Oder der Hans, dachte Willem, der bereits Noten in seinem Zeugnis stehen hatte. Keine Möglichkeiten mehr für Tendenzen oder Zwischenräume, eine Reduzierung auf Symbole, eine machtvolle Kombination nackter Zahlen – ist 5 , ist 6 , ist 1 , und der Hans hatte gesagt, lauter Dreier und Vierer, und für Willem wäre so etwas eine Katastrophe. Sie würden ihm das Lesen verbieten und die Spiele an der Weser, ein radikaler Eingriff in seine freie Zeit, doch der Hans hatte zu seinem Zeugnis bloß gegrinst; was wichtig sei, das bringe ihm seine Oma bei, und so ein Lappen, hätte die Oma gesagt, sei immer noch ein guter Fidibus. So gab es also auch Häuser, in die die Macht der Lehrer nicht greifen konnte, und da konnte ein Fräulein von Weyer ihr Preußischblau verspritzen oder einen wie den Hans noch so oft vor die Klasse stellen und mit ihren Soldatenreihen nach ihm schnappen; zuletzt hatte es keine Auswirkungen. Einer wie der Hans schlenderte danach einfach nach Hause, und da sagten sie, mein lieber Junge, Holzhacken, Reusenleeren und hast du Blutwurst dabei; was in der Schule war, interessierte nicht.
    Doch Willem – das war gar keine Frage. Willem mußte interessieren, was in der Schule war. Er mußte sich so verhalten, daß Fräulein von Weyer ihn für aufmerksam und fleißig hielt. Er stand unter Druck, seine Mutter kontrollierte die Hausaufgaben, seine Mutter ließ ihn den Stoff wiederholen, sie fragte ihn ab, sie hielt Rücksprache, und wenn die Lehrerin behauptete, er wäre unkonzentriert, strich die Mutter einen Nachmittag – Zeit und Freiheit, einen Brocken aus seiner Seele, den sie unwiederbringlich herausschnitt, hochhielt und sich einverleibte. Als wäre sie eine
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