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Kronhardt

Titel: Kronhardt
Autoren: Ralph Dohrmann
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uralte Macht mit uralter Besessenheit; eine Kannibalin mit Muttermaske, die um so fürsorglicher schien, je mehr sie herausfressen konnte.
    So lasen und lasen die Alten, brannten und tätschelten. Und Willem wirkte erschließbar und zugänglich. Er ließ die Mutter sehen, wie sich die gewünschten Eigenschaften in ihm entfalteten, und wenn sie dennoch mißtrauisch wirkte, dachte er an die Worte vom Doktor Blask. Nicht mal sie konnte wissen, wer da wirklich in ihm steckte.
    Also war Willem ein guter Schüler. Also fügte er sich auch in die Anordnung, in der Produktion und im Büro zu assistieren, von der Pike auf, nannte die Mutter das, und als wäre es nicht genug, mußte er dazu den Kittel des Stickers tragen oder den Geschäftsanzug, ein kleiner Mann in Spezialkleidern, und wenn er Öl oder Tinte im Gesicht hatte, rieb die Mutter mit Speichel. Und nachmittags, wenn sie ihn in den Feierabend entließ, damit Willem, ganz wie vom Doktor empfohlen, an die frische Luft kam, ließ sie ihn noch mal das Durchdringende ihrer Mutterschaft spüren. Begleitete ihn vor die Tür, legte ihre Hand auf seinen Kopf und blieb noch stehen, wenn Willem bereits losmarschiert war.
    So stand die Mutter und sah ihrem Jungen hinterher; spürte die unverbrauchten Möglichkeiten in der Luft, und mit jedem Atemzug verwandelten sich diese Möglichkeiten in Unberechenbarkeit. So stand sie, sah Willem hinterher und zwang sich, an die Worte des Doktors zu denken: Leptosom und verweichlicht, hatte Blask gesagt, und das beste Rüstzeug sei immer noch Abhärtung unter freiem Himmel. Lassen Sie den Jungen laufen, hatte Blask gesagt, lassen Sie dem Jungen die kindliche Freude am Schweiß und an den freien Elementen.
    Ein undurchschaubarer Mensch übrigens, dieser Blask. Wortkarg und im nächsten Moment schon wieder polternd, und nur was man fachlich von ihm sagte, konnte die Mutter überzeugen: ein Mann, der erstaunliche Eigenschaften in der Behandlung von Kindern entwickelt hatte. Auch von Dorftrotteln, hieß es, und von wem hatte sie das mit den Dorftrotteln noch? Von dieser Siegfried-Mutter, genau, und im Grunde mußte man sich schämen, mit der Familie gesehen zu werden. Doch sobald der Kontakt zu Max Schmeling einmal hergestellt wäre, würde diese Familie nicht mehr interessieren. Dieser Max, der hatte das Herz auf dem rechten Fleck. Das Herz eines Boxers, dachte sie, und dieser Max, der war auf dem Teppich geblieben, der war nicht so ein Parvenü geworden wie sein Vetter. Max, der würde die gebündelten Energien, den Boom hinter ihren Ideen sehen, der hatte beides, dieser urdeutsche Boxer: Bodenhaftung und Weitsicht, und deswegen war es auch so unheimlich schlau von den Amis, ausgerechnet ihm die Lizenz zu geben.
    So stand die Mutter in der frischen Luft. Atmete die unverbrauchten Möglichkeiten aus der Welt und dachte zurück an diese herrliche Juninacht 36 . Gegen drei Uhr morgens war es wohl gewesen, und die Familie hatte um den Volksempfänger gesessen, Vater und Mutter, die Brüder Karl und Willem und sie, Eva, die Jüngste – ach Kinder, war das erhaben gewesen, die Direktübertragung durch den Äther, die brüllende und verrauchte Arena von New York ins heimatliche Wohnzimmer; Kinder, was war das für eine Hochspannung gewesen, was war das für ein Gefühl – und sie hielten einander fest, weil die Worte des Berichterstatters sie sonst umgehauen hätten, sie waren naßgeschwitzt in dieser Juninacht, immer wieder verzerrte die Stimme aus dem Radio, überschlug sich, und aus diesen dramatischen Schwingungen sickerte wunderbare Ahnung – nichtwahr, aufs ganze Reich sickerte dieser Segen und schwang sich zurück in den Äther. Schwang nach New York und in die Arena und verwandelte sich in den Siegeswillen eines ganzen Volkes – dieser unbezwingbare Joe Louis mit seiner unbezwingbaren Nation im Rücken –, ha, es war Verheißung aus dem Äther, als die Radiostimme so ekstatisch widerhallte: Weiter, Max! Weiter, Max! Weiter, Max!, und das ganze Reich war erfüllt davon, spürte die Kraft und die Herrlichkeit und den Willen zum Sieg, und dann der Dolchstoß, dieser endgültige Ruf der Gewißheit: Aus! Aus! Aus! Der Kampf ist aus! Das war Deutschland in seinem glücklichsten Augenblick – eine wunderbare Verdichtung der Morgenröte, des Äthers, des deutschen Volkes. Und nie wieder war es so
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