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Kronhardt

Titel: Kronhardt
Autoren: Ralph Dohrmann
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Anforderungen von Sonnenwind oder Hundehaufen zu tun habe. Also brauche Willem frische Luft, und wenn er wieder gesund sei, solle er gefälligst im Dreck wühlen, und der Doktor versprach, mit der Mutter darüber zu reden.
    So stand er da, und der Spiegel zitterte noch.
    Nur Willems Kopf war aus dem Bett heraus zu sehen, der Glanz seiner Augen.
    Bah. Die verpaßte Einschulung – zum Teufel damit, sagte Blask. So eine Photographie mit Ranzen und Tüte lasse sich jederzeit machen; in einer Woche spreche sowieso niemand mehr davon, und die Zuckertüten vergammelten in irgendwelchen Ecken – ha: mein erster Schultag! Da taten sie sich geheimnistuerisch zusammen, zitterten, furzten und wurden kurzatmig. Gerade so, als ob der große Geist mit der Maske käme und die Kinder zu sonstwas mitnähme. Und was: Dieser ganze Hokuspokus nur, damit die Alten ihr verknöchertes Werk in die Jungen pflanzen könnten. Nichtwahr – sie machten es immer wieder. Einfach weil die Alten vor ihnen es auch gemacht hatten.
    Dabei hätten sie doch diesen Kopf – Menschenskinder, und er klopfte gegen sein Schädeldach. Dieses Organ für Werterlebnisse, für Größe und Erhabenheit. Ein Ding, in dem sich alle Sinne des Menschen – das Mächtige des Lebens – ja, das Übermächtige offenbaren könnten. Zack, auf ein Fingerschnalzen plötzlich Jura, Kreide oder Jungsteinzeit. Zack, und plötzlich liefe die Zeit rückwärts oder die Naturgesetze lösten sich auf. Doch anstatt ehrfürchtig vor diesen Wundern des Lebens zu stehen, verpflanzten die Menschen ihre knöchernen Zeiten von einem Kopf in den nächsten – Deutsches Reich, Bürgertum, Hitlerfaschismus. Ohne zu hinterfragen, als wäre diese Wirklichkeit ein Virus und die Menschen funktionierten nach seinem Programm. Dabei stecke so viel mehr in diesen Köpfen, phantastische Möglichkeiten zwischen Atomen und Galaxien, und wenn sie nicht so anfällig für die Wirklichkeit der Alten wären, könnten diese Köpfe eine wunderbare Welt erschaffen. Aber das würde Willem eines Tages vielleicht selber erfahren – wie gesagt, die Grundlage dazu sei gegeben, und mit langen Schritten kam der Doktor ans Bett und legte seine Hand auf den kleinen Schädel.
    Eigentlich, sagte er, mag ich keine Kinder. Und du?
    Willem wußte es nicht.
    Keine Freunde?
    Nein.
    Die Mutter, was?
    Ja.
    Und der Vater?
    Ist tot.
    Ach.
    Der andere ist mein Onkel.
    Schau an.
    Und dann: Hast du Angst?
    Willems Augen glänzten.
    Die Hand umfaßte den Schädel und drückte. Brauchst keine Angst zu haben. Niemand kann wirklich wissen, daß du es bist, der hier drinsteckt. Du könntest ebensogut woanders drinstecken und keine Angst haben. Außer dir weiß das niemand.
    Und Willem lachte.
    So kam er als Nachzügler in die Klasse.
    Die Lehrerin hielt eine Ansprache, die Mutter stand in seinem Rücken, und die zahllosen Augen der Kinder brannten sich bis in seine verborgenen Schichten. Er trug einen Pepita-Anzug und hatte letzte Borken im Gesicht; das Haar mit Brillantine gescheitelt, und die Lehrerin erzählte von der Stickerei; von der Emigration damals, und die Mutter, nordisch und mit der Turmfrisur wie aus Stein geschlagen, drückte Willem in ihre Furche. Entblößte seine Unvollkommenheit, den roten Schrumpfkopf im übermächtigen Mutterfleisch, und rings die Augen der Kinder waren Brenngläser.
    Später tuschelte die Mutter mit der Lehrerin, und bevor sie den Raum verließ, strich sie Willem über den Scheitel. Dann mußte einer der Schüler seinen Platz räumen, und Willem wurde zu einem Dicken gesetzt. Der Tisch stand in der ersten Reihe, und der Dicke hieß Siegfried.
    Immer wenn Siegfried etwas wußte, reckte er sich und schnipste mit den Fingern. Und wenn die Lehrer ein anderes Kind aufriefen, sackte alle Masse zusammen, und er war beleidigt. Und sobald die Lehrer ihn unverhofft fragten, wußte er keine Antwort, sackte zusammen und war beleidigt. Willem saß einfach neben ihm, doch zweimal fing der Dicke Zank an, weil Willems Sachen auf seine Hälfte des Tisches geraten waren. Beim dritten Mal stieß er ihn in die Rippen, und Willem war erschrocken und überrascht; er konnte die Sache nicht einschätzen, doch nach einer Weile hatte er eine Entscheidung getroffen und stieß zurück. Der Dicke fing sofort an zu heulen, doch der Erdkundelehrer sagte nur, du
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