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Kronhardt

Titel: Kronhardt
Autoren: Ralph Dohrmann
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hast zuerst geschlagen, Siegfried.
    Auf dem Schulhof stand Willem alleine. Rings die Tollereien und das Gelächter verwandelten sich in etwas Großes, ein übergeordneter Vorgang, wie die wechselnde Formation eines Vogelschwarms, und jede Pause hatte ihr eigenes Muster; ein Schwirren und Schwingen, das immer ähnlich war, aber niemals gleich. So stand Willem, aß sein Pausenbrot und sah die Welt, wie er sie mit seinem Vater gesehen hatte. Ein immer neues Wunder, und das Brot war mit ordentlich Blutwurst und Harzer belegt, ein Geschmack nach seiner Mutter und Kronhardt.
    Eines Tages stand ein Junge neben ihm, aus der Dritten. Er hieß Hans, hatte eine Hasenscharte und war Anführer eines lustigen Trupps. Spielst nicht gerne, was.
    Willem wußte es nicht.
    Komm, rief Hans, wieherte durch die Hasenscharte, und der Trupp zog Willem mit.
    Hans hatte sein Brot in Zeitungspapier, das fleckig war und weich, und immer war es nur trocken Kommiß. Bald legte Willem Blutwurst und Harzer drauf und sah, wie der Junge den Käse aß und die Wurst in die Hosentasche steckte.
    Mit andern spielen, sagte Hans, kannste aber nicht kaufen.
    Willem sagte, daß er gerne gab.
    Dann ist ja gut, und er stieß seinen Ruf durch die Scharte, und jeden Tag steckte er die Blutwurst in die Hose.
    Wie die Mutter davon erfuhr, wußte Willem nicht; es schien ein Vorgang, der mit geisterhafter Fernwirkung stattfand, der häßlich war und beklemmend, und mit der unsichtbaren Aufdeckung seiner kleinen Geschenke, mit ihrem Eingriff bis in die Geschmacksnerven machte sie ihm das Leben schwer. Sie verbot, Blutwurst und Harzer abzugeben, und Willem schämte sich.
    Doch Hans zuckte bloß mit den Schultern. Dann erzählte er, daß sein Opa im Krieg geblieben war; sein Vater war einarmig zurückgekommen, seine Mutter mit dem fünften Kind gestorben. Jetzt zog der Vater mit einem Leierkasten durch die Stadt, ein stummer Mann, der leere Ärmel das Wundmal aller, doch davon wollte niemand etwas wissen. Und so kurbelte der eine Arm lustige Melodien für das Vergessen, und der Ärmel steckte immer akkurat in der Tasche. Zum Glück, sagte Hans, hätten sie aber die Oma. Ohne die Oma wärs finster; sie hat die Kriege mitgemacht, die Inflation, den Hunger und weiß alles. So blickte Hans noch einmal auf die fetten Blutwurstscheiben, und dann warf er den Kopf zurück, schnaubte und johlte, ein übermütiger, schräger Ton, der sich durch die Scharte preßte und über den ganzen Schulhof schwang. Und er zog Willem mit in seinen Galopp.
    Ein paar Tage später standen sie auf dem Rinnstein und pullerten gegen die grauen Fliesen; das Wasser aus den braunverfärbten Düsen sickerte abwärts und trieb ihren Urin in ein Loch. Dann sagte Hans, daß er mit seiner Oma gesprochen hätte. Und seine Oma hätte gemeint, daß Willem doch gar keine Blutwurst mochte. Wenn es nur wegen seiner Mutter wäre, die könnte man ja austricksen, und so trafen sich die Jungs regelmäßig auf dem Klo, und während das Wasser abwärts sickerte, wanderte die Blutwurst aus einer Tasche in die andere; ein heimliches Abkommen, und es machte Willem selbstbewußt, daß er diese geisterhafte Fernwirkung seiner Mutter unterwandern konnte.
    Die Mutter sorgte dafür, daß er einmal die Woche zu Siegfried ging.
    Siegfried war ein seltener Mensch, mit Ausbuchtungen an den unmöglichsten Stellen, und während die meisten Familien noch einen Küchengarten hatten und in den Jahreszeiten Bickbeeren oder Pilze sammelten, konnten seine Eltern sich Speck an ihrem Kind leisten. Und bei Siegfried zu Hause mußte Willem dann feststellen, daß sie alle aus der Form geraten waren; ein Clan, der Tröpfchen, Kugeln und Massen an Speck angesammelt hatte, und Willem fand heraus, daß diese Verfettung mit Max Schmeling zu tun hatte. Dieser Max hatte nach dem Krieg von den Amerikanern eine Cola-Lizenz bekommen, und der Vater des Dicken war ein Vetter des Boxers. Er war Cola-Vertreter geworden, der ganze Keller war voll damit, und die Familie trank Cola, aß Cola, und Siegfried sagte immer: Unsere Cola. Mächtig großer Stoff.
    Und so saßen sie in Siegfrieds Zimmer; der Dicke hatte eine Sammlung von Blechautos, und wenn er Stromleisten und Flossen wienerte, hing ihm die Zunge zwischen den Zähnen. Zwischendurch süffelte er Cola, und manchmal ließ er Willem mit einem der Autos spielen. Ansonsten
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