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Kronhardt

Titel: Kronhardt
Autoren: Ralph Dohrmann
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gewesen. Die Heimat geborgen im Fingerhut, die Welt lag ihnen zu Füßen, und in der Bremer-Stickerei-Manufactur ratterten die Maschinen auf Sieg, im ganzen Reich ratterte dieses wunderbare Stakkato.
    Ach Kinder, dachte sie, so wie in dieser Juninacht ist es nie mehr gewesen. Auch nicht beim Triumph über Polen, obwohl der Bruder Karl dabeigewesen war und diese Offenbarung quasi privat gemacht hatte; doch zuletzt fehlte er zur Vollkommenheit daheim, der Karl, und als wäre das bereits eine Ahnung gewesen, verscholl kurz darauf der andere Bruder, Willem, und das U-Boot, auf dem er stationiert gewesen war, tauchte nie wieder auf; Kinder, diese Juninacht war etwas Vollkommenes, ein Vierteljahrhundert, Kinder, wie die Zeit vergeht. Doch diese Nacht um den Vau-E blieb ewig eingebrannt; die Familie ein Herz, das Reich, und aus dem Äther das Herz eines Boxers. Sie hatten geweint vor Glück, und für die Familie war aus dem Gassenhauer das Herz eines Stickers geworden – und heute, dachte sie. Heute könnte man nur noch heulen, doch Schmerz bringt das Verlorene nicht zurück. Nach vorn muß man schauen; Max Schmeling, dachte sie, der hat die Lizenz, und mit dem muß man ins Geschäft kommen. Der kann etwas anfangen mit einem Schriftzug auf Schiffchen und Schürze, der weiß um Banner und Identifikation, und so stand sie, das Herz eines Stickers, und verweigerte die Tränen.
    Ihr Junge marschierte derweil gegen die frische Luft.
    Und obwohl seine schmächtige Gestalt mit der Entfernung noch kleiner wurde, lagen im Blick der Mutter bereits Größe und trapezförmiger Rumpf; ein willensstarker Ausdruck im kühlen Hanseatenblick, und so wollte sie mit ihm in die Zukunft marschieren, im eingefleischten Takt der ratternden Maschinen.
    Einmal noch hielt sie ihre Nase hoch, schnüffelte nach den Möglichkeiten, die das Durchdringende ihrer Mutterschaft verschmutzen könnten. Doch daß der Junge auch aus der Entfernung noch immer winkte, beruhigte sie zuletzt.

2
    Manchmal standen Ausflügler vor den Stadtmusikanten, und Willem rief ihnen voller Lebenslust das Motto der vier Tiere zu. Straßenbahnen rollten über den Marktplatz, in den Bombentrichtern stand Wasser; um die Trümmer waren Zäune gezogen, und verkohlte Spuren eingefleischter Geschichte stiegen auf. Der Roland blickte unbeirrt in die Richtung, in die er immer geblickt hatte. Vryheit, stand auf seiner Brust geschrieben, do ik ju openbar, und Willem legte die Hand auf den Schutzpatron, so wie sein Vater es ihm gezeigt hatte. Ein mildes Gesicht, für das Zeit keine Rolle spielte, und die Straßenbahnen kamen ihm entgegen oder sie zogen davon, und Willem sah hinter den Fenstern die Passagiere mit Homburg oder Dauerwelle – Reisende, hatte sein Vater gesagt, die heute den Raum durchschnitten, wo gestern noch Pferdehufe gehallt hatten, Gaukler oder Hexen.
    Als sein Vater noch lebte, hatten sie all diese Bilder gesehen; stundenlang blätterten sie in Büchern, wurden von den Wörtern eingezogen, von den Bildern und Kupferstichen, und es war immer wieder ein überwältigendes Gefühl gewesen, wenn sie sich zuletzt selbst in den Büchern entdeckt hatten. Eingezogen in andere Welten, während rings die Straßenbahnen den Raum durchschnitten; während Volkswagen und Borgward unter der Doppelspitze des Doms parkten und Männer im Ulstermantel ins Rathaus schritten. Und während zugleich die Tauben zuckelten, als wären sie aus Büchern und Kupferstichen entsprungen; als wären sie schon immer gurrende und furchtlose Allesfresser gewesen, die noch Könige und Bettler bedrängten. Im Grunde seltsame Tiere, meinte Willem, die im fliegenden Schwarm so frei wirkten, in ihren Bewegungen bald anmutig wie ein einziger Körper, und sich doch auf ein Leben zu Füßen der Menschen einließen. Auf Reste und Abfälle, und manche hatten Geschwulste oder ein verklumptes Bein, doch zuletzt blieben sie immer unbehelligt. Der Vater hatte aus mittelalterlichen Stundenbüchern vorgelesen, und den Tauben war es damals bereits besser ergangen als den Knechten; die adeligen Grundbesitzer ließen schmucke Türmchen für sie errichten, in denen sie noch sicher vor Ratten und Mardern waren, und die Knechte mußten die Taubenkacke sammeln und auf die Felder verbringen. Taubenkacke war ein kostbarer Dünger, die Türmchen kleine Fabriken, und so, hatte der Vater gesagt, waren die
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