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Die Stunde des Wolfs

Die Stunde des Wolfs

Titel: Die Stunde des Wolfs
Autoren: Alan Furst
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Unter spanischer Flagge
    A M DREISSIGSTEN A PRIL DES J AHRES 1941 zog im Hafen von Tanger die mediterrane Abenddämmerung wie immer sacht und langsam herauf. Über die Berge trieben feuerrot gefärbte Wolkenfetzen, und unten im Hafen gingen am Kai die Straßenlaternen an. Eine weiße, eine steile Stadt mit ihren Gassen, Cafés und Basaren, in deren Zwielicht sich die Kunden zu Liebe und Geschäften drängten. Draußen im Hafen lag ein spanischer Zerstörer, die Almirante Cruz, zwischen den Handelsschiffen vor Anker, über deren rostgefleckten Rümpfen die scharfen Silhouetten der Deckkräne ins Dunkel ragten.
    Im Funkraum an Bord des Trampschiffs Noordendam von der niederländischen Handelsgesellschaft Hyperion herrschten Backofentemperaturen, und der ägyptische Funker, den alle Mr. Ali nannten, trug nur ein ärmelloses Unterhemd und eine weit geschnittene Unterhose aus Seide. Er saß in seinen Drehstuhl zurückgelehnt und rauchte eine Zigarette im Elfenbeinhalter, während er einen dünnen Schundroman in einem schön marmorierten Einband las. Von Zeit zu Zeit nahm er seine Goldrandbrille ab, um sich, ohne es recht zu merken, mit einem Tuch über das Gesicht zu wischen. Er war die Hitze gewohnt, die sich nach einem langen Sonnentag in den Stahlplatten staute. Er war auch diese Häfen gewohnt – allesamt finstere Löcher, ob sie nun Aden oder Batavia, Shanghai oder Tanger hießen, und außerdem war er in die fesselnden Vergnügungen der Figuren vertieft, die seinen Roman bevölkerten. Aus dem drahtlosen Telegrafen vor ihm, einer grauen Wand aus Schaltern und Skalen, drang Ätherrauschen, sein Wachdienst war in weniger als einer Stunde zu Ende – er war mit sich und der Welt zufrieden.
    Und dann, inmitten des Rauschens, ein Signal. Auf der BAMS-, der ›Broadcasting for Allied Merchant Ships‹-Frequenz, und offenbar weit draußen auf offener See. Er legte das Buch mit den aufgeschlagenen Seiten nach unten auf die Arbeitsplatte unter dem Funkgerät, setzte den Kopfhörer auf und regulierte feinfühlig mit Daumen und Zeigefinger den Empfang.
    Q, Q, Q, Q.
    Bei der Meldung kam er – spätestens seit Mai 1940 – ohne das BAMS-Codebuch aus. Es bedeutete: Ich werde von einem feindlichen Schiff angegriffen, und er hatte es schon allzu oft gehört. Da war es also wieder, das schnelle, heftige Hämmern des unbekannten Funkers. Und noch einmal, und noch einmal. Armer Kerl, dachte er, während sein Kollege auf einem abgewrackten alten Handelskahn seine letzte Meldung sendete, nachdem sein Schiff sich einem aufgetauchten Untersee- oder angreifenden Torpedoboot gegenübersah und der Schuss bereits den Bug aufgeschlitzt oder der Torpedo den Maschinenraum zerfetzt hatte.
    Mr. Ali tat, was in seiner Macht stand. Öffnete die Funkkladde, hielt Datum und Uhrzeit für den anonymen Notruf fest. Der Kapitän der Noordendam, De Haan, würde es sehen, wenn er nachher das Schiff zu Bett brachte – er warf stets einen Blick in die Kladde, bevor er in seine Kajüte ging. Wären sie auf See gewesen, hätte Mr. Ali den Kapitän sofort in Kenntnis gesetzt, doch hier im Hafen wäre das vollkommen zwecklos gewesen. Sie konnten nichts tun, kein Mensch konnte etwas tun. Das Meer war groß, und die britische Seemacht konzentrierte sich auf die Konvoi-Routen – wer hätte schon dem Feind die Stirn bieten oder Überlebende aufnehmen können? Das Schiff würde einsam sterben.
    Eine Weile noch war das Signal zu hören, auf der Uhr an der Funkanlage exakt fünfzig Sekunden; wahrscheinlich wurde es noch länger gefunkt – vielleicht gaben sie den Namen des Schiffs durch und seine Koordinaten, doch die Sendung riss ab und verlor sich im an- und abschwellenden Geheul einer Störfrequenz. Scheißkerle. Mr. Ali sah auf die Uhr. Fünf Minuten, sechs, bis die Störgeräusche verebbten und nur noch leere Luft zu hören war. Er war gerade dabei, seine Kopfhörer abzusetzen, als das Signal wiederkam. Nur ein einziges Mal und schwächer, sowie das Stromaggregat des Schiffs seinen Geist aufgab. Q, Q, Q, Q, dann herrschte Stille.
    De Haan war in diesem Moment an Land – hatte eben die Gangway der Hafenbarkasse hinter sich gelassen und näherte sich einem ramponierten Citroën mit der Aufschrift Taxi Tarzan an der Tür, der auf dem Pier stand und dessen maurischer Fahrer es sich, die Hände hinterm Kopf verschränkt, zu seinem abendlichen Nickerchen auf dem Rücksitz bequem gemacht hatte. De Haan sah auf die Uhr und beschloss, zu Fuß zu gehen. Die Rue
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