Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kristina, vergiß nicht

Kristina, vergiß nicht

Titel: Kristina, vergiß nicht
Autoren: Willi Faehrmann
Vom Netzwerk:
ziehen nächste Woche Donnerstag aus. Bis dahin müsste ich allerdings Bescheid haben.«
    Vater bedankte sich.
    Mutter hatte während der Rückfahrt hundert Einwände.
    »Es ist doch ziemlich weit. – Die Fahrkarten zur Schule sind teuer. – Die Zimmer oben sind sehr klein. – Der Garten muss gepflegt werden. – Es ist ein alter Kasten. – Die ganze Wohnung müsste gestrichen werden. – Wenn es regnet, dann wird der Hund den Dreck aus dem Garten ins Haus tragen. – Im Winter, wenn Glatteis ist, wie kommen wir dann in die Stadt?«
    Auf alles fand sich eine Antwort.
    Schließlich sagte Mutter: »Ich merke es schon, der alte Kasten hat euch bereits verzaubert.« Sie lachte auf. »Wenn ich ehrlich sein soll, mich auch.«
    »Es ist nicht das Haus allein«, sagte Großmutter. »Ich weiß nicht, ob ihr’s bemerkt habt, die Leute auf der Straße haben sich gegrüßt. Sie sind sich nicht so fremd wie die Menschen hier in der großen Stadt.«

Unsere kapitalistische Gesellschaft ist voller Zwänge und Unterdrückung. Wer sich nicht anpasst, wird niedergewalzt. Deshalb brauchen wir die Veränderung, die radikale Veränderung«, sagte Krause.
    Herr Pomel lächelte und wandte sich an die Klasse. »Was sagen Sie zu Krauses krausen Thesen?«
    »Ist was dran«, bestätigte Petra. »Mein Bruder ist im zweiten Semester auf der Uni. Da ist vielleicht was los, kann ich Ihnen sagen. Wenn sich das nicht bald ändert, dann knallt’s. Sagt wenigstens mein Bruder.«
    »Und die Korruptionsfälle in Bonn. Die scheffeln doch alle bloß in ihren eigenen Säckel«, ereiferte sich Dietmar.
    »Pauschalurteile«, rief John dazwischen.
    Krause sagte: »Das System muss sich ändern, dann haben endlich auch die Unterprivilegierten eine Chance. Die Arbeiterkinder. Die Randgruppen.«
    »Nun haben wir ja sozialistische Systeme in der Welt«, warf Herr Pomel ein.
    »Nehmen Sie Kuba!«, sagte Krause. »Als die Amerikaner es noch ausbeuteten, da gab es jede Menge Analphabeten, krassen Reichtum bei wenigen, Armut und Unwissenheit bei der breiten Bevölkerung. Heute gehen alle Kinder in die Schule. Jeder verdient gleich viel. Jeder bekommt, was er zum Leben braucht. In den Krankenhäusern gibt es keine Klassen. Telefonieren ist kostenlos. Das sind doch Tatsachen.«
    »Die niemand bestreitet«, antwortete John. »Aber willst du das Modell Kuba auf die westlichen Industriestaaten anwenden? Mein Vater und Großvater sind Gewerkschaftler. Sie haben um all das gekämpft, was wir hier an Rechten, an Sicherheit haben. Das wird Schritt um Schritt weitergehen.«
    »Die Lohnabhängigen merken ja gar nicht, wie sie immer abhängiger gemacht und gehalten werden«, sagte Krause.
    »Ich meine, der Vergleich mit Kuba hinkt. Die DDR oder Polen liegen doch viel näher«, warf Petra ein.
    »Na, dann lasst sie doch mal berichten, die Kristina von drüben.«
    Krause war aufgestanden.
    »Gibt es noch Analphabeten in Polen, wie etwa vor dem Krieg?«
    »Nein«, antwortete Kristina.
    »Gibt es die großen Unterschiede zwischen Arm und Reich?«
    »Nein.«
    »Muss nicht jeder arbeiten?«
    »Ja.«
    »Das ist es eben.« Krause zog das Fazit. »Der Mensch beutet nicht länger den Menschen aus.«
    »Und trotzdem sind Sie hergekommen?«, fragte Herr Pomel.
    »Meine Eltern haben das gewollt«, antwortete Kristina. »Aber inzwischen will ich es auch. Ich habe meine Freundin Basia in Polen zurückgelassen. Alle, mit denen ich groß geworden bin, sind zurückgeblieben. Aber ich habe die Freiheit gewonnen!«
    »Freiheit!«, schnappte Krause. »Was verstehst du schon von Freiheit?«
    »Nun«, antwortete sie, »dass ich zweifeln darf, selber Lösungen suchen darf, dass ich in der Politik nicht auf Glauben und Befolgen, Erfüllen und Gehorchen angewiesen bin. Menschen, davon bin ich überzeugt, werden nicht durch Systeme besser. Systeme sind übergestülpt. Menschen müssen sich von innen her ändern, dann werden sie auch die Welt verändern.«
    »Also nie«, grinste Krause.
    »Nicht, solange du nur Reden schwingst. Fang doch an, für mehr Gerechtigkeit zu arbeiten. Wir brauchen noch einen für die Hausaufgabenhilfe in der Lützmannstraße.«
    »Kleingärtnereien!«, spottete Krause. »Das ist Herumdoktern am Rande und hilft nur das System zu stabilisieren.«
    »Es hilft dem Waclaw Bronski in der Schule zurechtzukommen. Bei schönen Reden allein geht er vor die Hunde.«
    »Oder wird wach, und seine miese Lage wird ihm bewusst.«
    Das Interesse an dem Streitgespräch war bei den meisten der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher