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Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten

Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten

Titel: Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten
Autoren: Werner Toporski
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ZEIT DER ROTEN SPINNEN
    Es war dieser Sommer, der letzte Sommer, bevor alles anders wurde. So sehr anders, wie ich es mir niemals hätte vorstellen können. Irgendwo weit fort war Krieg, sicher habe ich das gewusst. Aber doch nicht hier in Waly. Hier war Frieden, tiefster Frieden, und wieso sollte sich das ändern?
     
    Ich sitze unter dem Maulbeerbaum. Hier ist mein Lieblingsplatz. Hier kann ich träumen in der Wärme des Nachmittags. Licht blitzt durch das Geäst, wenn die Sonne hinter Laub und Zweigen Verstecken spielt. Der Wind schläft. Nur die Blätter der großen Pappel vorn am Tor wispern vom leisen Hauch und zappeln. Pappeln zappeln immer. Die Birken an der Allee zum Haus rühren sich nicht und streuen Flecken von Licht und Schatten über den Sandweg. Ein paar Blätter sind schon gelb und von den Samen trudeln manche schon herab und verfangen sich in den Spinnennetzen am Zaun und an den Ställen: kleine, hellbraune Schwalben. Oder Schmetterlinge.
    Faul wie ich liegt unser Hund Hasso mitten auf dem Hof und blinzelt ab und zu mit einem Auge zu mir herüber. Er liebt es, sich von der Sonne braten zu lassen, und erst wenn ihm wirklich zu heiß wird, verschwindet er im Schatten des Hauses.
    In der Luft ein Hauch von Kamille. Wenn die Sonne darauf scheint, verströmen die Blüten diesen süßen Duft, bei dem ich gar nicht anders kann, als mich wohl zu fühlen. Das gehört zum Zuhause, genau wie milchiger Kuhstall oder Heu oder Holzrauch. Und der herbe Geruch der Felder zur Getreideblüte im Frühjahr: Trinken würde ich all diese Düfte, wenn man das könnte.
    Wenn ich hier unter meinem Maulbeerbaum sitze, dann wissen alle, dass man mich am besten in Ruhe lässt, weil man dann sowieso nichts mit mir anfangen kann. Und ich selber wünsche dann auch nichts sehnlicher, als allein gelassen zu werden. Fünf Geschwister können einem manchmal ganz schön auf den Wecker gehen! Im Grunde finde ich es ja schön, dass wir so viele sind, und ich kann es mir auch gar nicht anders vorstellen. Aber manchmal halte ich das einfach nicht aus! Vor allem Huppe. Meist verstehen wir uns ja gut, aber manchmal will er alles bestimmen, bloß weil er der Große ist, und dann platzt mir der Kragen.
    Mit meinen Füßen scharre ich Halbkreise in den Sand. Klar, dass ich barfuß bin, wir laufen im Sommer alle ohne Schuhe. Aber erst wenn es warm genug ist, und das ist dann, so Mamas Regel, wenn sich die kleinen roten Spinnen zeigen. Allerdings: Im Frühjahr halte ich mich manchmal nicht daran. Denn wenn von den weit ausladenden Pappeln die Kätzchen fallen und wie ein weicher Teppich auf dem Boden liegen, dann muss ich da einfach barfuß hinein, weil es sich so weich anfühlt wie das Fell von richtigen kleinen Katzen.
    Die roten Spinnen übrigens mag ich. Sie sind so klein, dass man genau hinsehen muss, um die winzigen Beinchen zu erkennen, denn sonst könnte man glauben, dass da kleine rote Punkte über die Erde huschen. Und ihr Rot leuchtet so schön!
     
    »Gib die Puppe her!«
    Elsbeth hat sie mir geklaut, bloß weil sie mich ärgern will.
    »Hol sie dir doch!«, ruft sie.
    »Gib sie her!«
    Gleich habe ich sie, schließlich bin ich größer und schneller. Und an ihren langen Haaren kann man sie gut fangen.
    »Hierher«, ruft Huppe, »hierher!«, und Elsbeth wirft ihm die Puppe rüber. Huppe ist mein Bruder, der Einzige, der älter ist als ich. Eigentlich heißt er Dietrich, aber ich habe ihn Huppe genannt, weil er mit seinen langen Beinen manchmal so komisch hüpft oder »huppt«, wie man bei uns sagt.
    »Ihr sollt mir die Puppe geben!«
    Ich bin jetzt wütend. Mit wenigen Sätzen renne ich auf Huppe zu, ich habe fast das Gefühl zu fliegen, so rase ich über den Hof. Er hat gar nicht damit gerechnet, und ehe er sich’s versieht, habe ich ihn am Kragen und reiße ihn nach hinten. Aber der Schuft macht sich los und rennt ins Haus, die Treppe hinauf. Die Puppe wirft er unterwegs weg, wahrscheinlich hofft er, dass ich dann aufhöre, ihn zu verfolgen. Aber ich will jetzt nicht mehr aufhören und die Puppe ist mir auch egal. Es ist einfach gemein, was er macht, und das werde ich ihm heimzahlen!
    Knapp vor mir saust er ins Kinderzimmer und hat gerade noch Zeit, sich unter eins der Betten zu retten.
    »Komm da raus!«, schreie ich ihn an.
    Aber er rührt sich nicht. Er hat Angst!
    »Du Feigling!« Ich bin jetzt richtig sauer! »Du ekelhafter Feigling, komm da raus!«
    Nichts.
    »Zum letzten Mal: Ich zähl bis drei.«
    Und ich zähle. Aber Huppe
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