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Kristina, vergiß nicht

Kristina, vergiß nicht

Titel: Kristina, vergiß nicht
Autoren: Willi Faehrmann
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Bach. Er konnte es wohl nicht verdauen, dass Doktor Schmuda ihnen gestern bestätigt hatte, ihre Stücke seien technisch gleichwertig. Seine schöne, teure Silberflöte jubelte auf, die hohen Lagen klangen klar und gestochen, die tiefen Töne weich und voller Wärme.
    Er ist heute besser als ich, dachte Kristina. Aber sie spürte keine Enttäuschung, kein dumpfes Gefühl der Niederlage ergriff sie. Dafür blieb kein Raum bei Hans-Jörgs Spiel. Und dann geschah das, was alle eine Sekunde erstarren ließ. Gegen Ende des Satzes hörte Hans-Jörg mit einem schrillen Misston auf zu spielen. Er ließ die Flöte sinken, verbeugte sich und sagte: »Verzeihen Sie. Ein bedauerlicher Umstand hindert mich weiterzuspielen.« Er lächelte starr und setzte sich steif auf seinen Platz.
    Zaghafter Beifall verstummte bald wieder.
    »Warum?«, fragte sie ihn.
    Er zuckte die Achseln und zog die Brauen hochmütig hoch.
    »Das war Absicht, Hans-Jörg. Warum hast du das getan?«
    »Meine Frau Mama hat mir den Sieg nicht zugetraut«, sagte er leise. »Sie war es, die die a-Moll-Sonate für dich auf Verlieren präpariert hatte.«
    »Das glaubst du doch selber nicht, Hans-Jörg.«
    »Sie hat es zugegeben. Sie hat gesagt, das sei corriger la fortune und safety first.«
    »Aber Hans-Jörg, was hast du dann damit zu tun?«
    »Du vergisst, dass es nicht irgendeine, sondern meine Frau Mama ist«, sagte er ironisch. Aber seine Lippen zuckten dabei. »Sie muss endlich einsehen, dass mir nichts daran liegt, um jeden Preis der Beste zu sein.«
    Mit verschlossenen Gesichtern saßen die Florins. Selbst das sorgfältige Make-up konnte Frau Florins Alter jetzt nicht mehr verbergen.
    Der Schlusschor verklang. Die Jury verteilte die Preise. Kristina bekam ein Stipendium für ein Jahr Flötenunterricht im Konservatorium und einen Gutschein über fünfzig Deutsche Mark.
    »Danke, das haben wir nicht nötig«, sagte Frau Florin, nahm Hans-Jörg den zweiten Preis, einen Gutschein über zwanzig Mark, aus der Hand und legte ihn auf einen Stuhl in der ersten Reihe.
    Da bemerkte sie, dass Kristina dicht neben ihr stand, hob lächelnd den Gutschein wieder auf und sagte: »Vielleicht hat die von der Schule geförderte Konkurrenz mit dem polnischen Zungenschlag dafür eine Verwendung«, und wollte ihn Kristina aufdrängen.
    Als die zornig einen Schritt zurücktrat, flatterte der Gutschein zu Boden.
    »Entschuldige, Kristina«, sagte Hans-Jörg und rannte davon.
    »Komm, Erna, du verlierst die Nerven.« Energisch griff Herr Florin den Arm seiner Frau und drängte sie zum Ausgang.
    Der Direktor gratulierte Kristina, Herr Pomel, Brandy, alle drückten ihr die Hand. Doktor Schmuda war noch ein wenig verstört.
    »Was hat er?«, fragte er Kristina.
    »Das muss er Ihnen schon selber sagen, Herr Doktor. Aber er ist ein feiner Kerl.«

Hans-Jörg
    Ich habe es heute herausbekommen. Ich warf ihr das Notenblatt auf die Illustrierte, in der sie blätterte. Ihre ärgerliche Frage, was das bedeuten solle, zeigt, wie sehr bei uns auf gepflegte Umgangsformen geachtet wird. Ich legte meinen Finger auf die Stelle, die so perfekt gefälscht worden war.
    Mit einem Male glomm in ihren Augen jene gespannte Wachsamkeit auf, die ich gelegentlich bei schwierigen Geschäftsverhandlungen gesehen hatte. Am meisten empörte mich die Kaltschnäuzigkeit, mit der sie ihre Manipulation vor mir zu rechtfertigen versuchte. Meine Vorwürfe drangen ihr nicht unter die Haut. Ihr Lächeln versank erst, als ich ihr sagte, was ich mit einem Male ganz deutlich erkannte, nämlich, dass sie mit ihrem Ehrgeiz nicht nur mir, sondern der ganzen Familie auf die Nerven falle und dass ich mich wundere, wie Vater es bei solch einer Karriererakete überhaupt zwanzig Jahre lang ausgehalten habe.
    Vornehmheit und Glätte fielen von ihr ab. Ich sei ein unerfahrener Flegel, sagte sie. Ich hätte das Wort Dankbarkeit nicht einmal im Lexikon bemerkt. Ich sei ohne sie eine Niete.
    »Wie Vater«, habe ich gekontert.
    Was ich mir erlaube, gehe zu weit. Und dann plötzlich, ich solle daran denken, wie sie mich geboren habe, Kaiserschnitt, Transfusion. Und nun dies. Von ihrem eigenen Sohn! Sie schaute mich mit aufgerissenen Augen an, Zwiebeltränen krochen ihr langsam den Nasenansatz entlang.
    Ich ging. Ich verfluchte die Kunst des Kaiserschnitts.
    Ich bin gefesselt. Ohne sie bin ich eine Niete. Vorläufig. Die Fesseln heißen: Taschengeld, Studium, Auto, Reisen, der beste Flötenlehrer der Stadt, Haus, Kleidung, Nahrung.
    Will
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