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Kristina, vergiß nicht

Kristina, vergiß nicht

Titel: Kristina, vergiß nicht
Autoren: Willi Faehrmann
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das Dämmerlicht des ihm unbekannten Kellers zu durchdringen. Er war nur wenig kleiner als ein Schäferhund, aber breiter in der Brust und der Schädel war flacher. Großmutter behauptete, er trage seinen Namen Wolf nicht zu Unrecht. Ein Schuss Wolfsblut sei unverkennbar.
    Kristina legte gerade das letzte Blatt auf den Tisch, als Großmutter endlich wieder heraufkam. Sie trug ein flaches Holzkästchen in der Hand. Sorgfältig wischte sie es mit dem Staubtuch sauber.
    »Was ist das?«, fragte Kristina. Sie sah das Kästchen zum ersten Male.
    »Wart es ab«, sagte die Großmutter.
    Sie setzte sich zu Kristina und versuchte den Schiebedeckel aufzuziehen. Die Kellerfeuchtigkeit hatte das Holz quellen lassen. Erst als Kristina ihr half, ließ sich der Deckel ruckweise öffnen.
    Kleine Gegenstände lagen darin, eingeschlagen in fettgetränkte Stofffetzen. Die Großmutter wickelte vorsichtig winziges Metallwerkzeug aus und legte es auf den Tisch. Eine Lupe, ein Satz streichholzlanger Schraubenzieher, eine kleine Mikrometerschraube. Aber erst der ein wenig größeren Schieblehre, die auf dem Boden des Kästchens lag, schenkte Großmutter ihre Aufmerksamkeit. Sie versuchte die Messzangen auseinander zu ziehen. Mühelos glitt Stahl über Stahl. Die dicke Fettschicht hatte jeden Rostansatz verhindert.
    »Was willst du mit dem Zeug?«
    »Zeug? Das sind Großvaters Instrumente.«
    »Ich denke, alles sei in den letzten Kriegswochen verloren gegangen?«
    »Stimmt. Unser Haus ist zerschossen worden, damals, 1944. Wenn dein Großvater nicht so dickköpfig gewesen wäre, hätten wir den elenden Trümmerhaufen nie wieder gesehen. Ich wollte früh genug in den Westen. Wir hätten es machen sollen wie unsere Verwandten, die Bienmanns aus Ostpreußen, wie Johannes und Agnes. Aber dein Großvater war störrisch wie ein Schafbock. Er konnte seine Werkstatt, sein Haus nicht aufgeben. Bis uns dann die deutschen Soldaten zwangen den Ort zu verlassen. Es war zu spät. Die Front überrollte uns wenige Stunden später. Wir wurden von den Russen zurückgetrieben. Ins Elend wurden wir zurückgetrieben. Bekamen heimgezahlt, was dieser Hitler, was dieser Krieg angerichtet hat. Wir konnten froh sein, dass wir das nackte Leben retteten.
    Unser Haus war ein Trümmerhaufen. Nur der Schornstein ragte hoch und oben im ersten Stock hing an der Installation noch die grüne, gusseiserne Badewanne, und der Wind schlug sie wie einen riesigen Gong gegen den Schornstein.
    Großvater hat irgendwo eine Schaufel aufgelesen und eine Hacke und hat den Schuttberg durchwühlt. Tatsächlich fand er diese Werkzeuge. Er konnte wieder Uhren reparieren. Damit haben wir uns über die erste schwere Zeit hinweggeholfen.«
    Großmutter blickte starr auf die Wand über dem gusseisernen Herd. Jedes Mal, wenn sie von früher erzählte, dann wurden ihre mausgrauen Augen groß und rund und schienen alles das genau zu sehen, wovon sie berichtete. Wäre Großmutters weißgraues Haar nicht gewesen, es wäre jedem schwer gefallen ihr mehr als fünfzig, fünfundfünfzig Jahre zuzutrauen. Ihre Haut spannte sich straff über den schmalen Jochbeinen, dünne Fältchen spielten um Augen und Mund, ihre kräftigen, dunklen Brauen, schmale, meist fest aufeinander gepresste Lippen, ihre zielbewussten, flinken Bewegungen, alles ließ erkennen: Großmutter wusste, was sie wollte.
    Kristina hatte heute keine Lust, Großmutters alte Geschichten zu hören. Basia wollte diesen Nachmittag kommen. Kristina dachte daran, dass sie vorher noch flöten musste. Sie unterbrach Großmutter und fragte: »Und was willst du jetzt mit dem Zeug?«
    »Werkzeug bitte«, sagte die Großmutter. Aber auf Kristinas Frage antwortete sie nicht. Sie wischte sorgfältig das Fett von der Schieblehre und wusch sich die Hände.
    Kristina rückte den Notenständer an das Fenster und griff nach der Flöte. Wolf, der die ganze Zeit über neugierig das Kästchen und die Werkzeuge beschnüffelt hatte, verkroch sich. Kristinas Flöten schätzte er nicht. Er legte sich, wenn sie nur den Notenständer anfasste, in der entferntesten Zimmerecke auf den Boden, den Kopf zwischen den Pfoten, und schaute sie mit einem beleidigt-traurigen Blick an, ließ sich auch während der ganzen Zeit ihres Spiels nicht aus seiner Ecke locken und kam erst wieder hervor, sobald sie die Stoffhülle über ihren Flötenkasten streifte.
    Großmutter suchte aus dem Stapel der Formulare den Umschlag mit den Passfotos heraus. Jedes einzelne maß sie mit der
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