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Kristina, vergiß nicht

Kristina, vergiß nicht

Titel: Kristina, vergiß nicht
Autoren: Willi Faehrmann
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schob sich durch die Halle. Kristina ging bis zur Tür neben ihm. Sie reichte ihm bis zum Kinn. Er war hellhäutig, blond, breit in den Schultern. Sie dunkel, zart. »Dünn wie ein Besenstiel«, pflegte Basia zu sagen.
    »Sei lieb zu Großmutter«, sagte Kristina leise. Janec brummte leise vor sich hin. Es klang nach »stara baba«, alte Hexe.

Vor Großmutters Haus war Janec immer mutig. Er wusste ganz genau, was er ihr sagen wollte.
    Dass sie eine herrschsüchtige Alte sei. Dass es ein Tick von ihr sei in den Westen zu wollen. Dass er polnisch spreche, wann es ihm gefalle. Dass er sich von ihr, der Alten, schon gar nichts sagen lasse.
    Von alldem blieb jedoch im Hause unter ihrem ruhigen klaren Blick nur ein jämmerliches »dzien dobry«.
    Selbst diese polnische Herausforderung verfehlte meist ihre Wirkung und wurde mit einem akzentfreien »Guten Tag« quittiert. Gelegentlich murmelte er dann »stara baba«, aber zwischen Murmeln und verständlichem Sprechen liegt ein beträchtliches Stück Mut.
    Er trat zu ihr in das Haus. Wolf empfing ihn an der Haustür, legte ihm die Vorderpfoten gegen die Brust und versuchte sein Gesicht zu lecken. Janec kraulte ihm den Nacken und sprang mit ihm um die Wette die sechs Stiegen hinauf. Er klopfte kurz an die braune Tür mit dem fein ziselierten Messingschild: Thomas Bienmann.
    Großmutter hatte die Lampe über dem Tisch eingeschaltet. Vor ihr lagen wieder die Formulare. Die Nickelbrille auf ihrer Nase zeigte, dass sie immer noch nach vielleicht übersehenen Mängeln forschte.
    »Gutten Abbend«, sagte Janec.
    Sie drehte sich halb um und schaute über den Brillenrand hinweg zur Tür. »Bist du es, Hans?«
    Er trat zu ihr ins Licht.
    »Setz dich, Junge. Schön, dass du unser Haus noch gefunden hast.«
    Er hockte sich ihr gegenüber auf die Bank. Wolf legte den Kopf in Janecs Schoß und schloss die Augen halb. Mechanisch tätschelte der Junge den Hund.
    »Ich habe viel Arbeit, Großmutter.«
    »Du hast es nicht anders gewollt.«
    »Ich beklage mich nicht.«
    Sie schob die Formulare zur Seite. »Was für eine Arbeit, mein Junge?«
    Er streckte die Handflächen über den Tisch zu ihr hinüber.
    Sie betastete mit dem Finger die Schwielen. »Ich dachte gar nicht, dass Elektriker solche harten Hände bekommen.«
    »Ich habe Schlitze in Mauern gestemmt, Großmutter. Vierzehn Tage lang habe ich mit dem Fäustel und dem Meißel gearbeitet.«
    »Bald hört das auf, Hans.« Sie schlug mit der flachen Hand auf die Formulare. »Diesmal werden sie nicht Nein sagen können.«
    Janec grinste.
    »Den Donatka haben sie vorige Woche vom Amt zurückgeschickt. Er hatte extra einen Urlaubstag drangesetzt und war mit Stanek und Janina in die Stadt gefahren. Und weißt du, was los war?«
    »Ich weiß, Hans. Die Fotos waren zu klein. Aber unsere Fotos sind nicht zu klein. Sie stimmen haargenau.«
    »Dann werden sie etwas anderes finden, Großmutter. Sie können nicht alle weggehen lassen, die weggehen wollen. Der Donatka ist Spezialdreher. So schnell kann den niemand ersetzen. Der Staat zahlt für Kristinas Ausbildung im Lyzeum. Meinst du, der lässt sie ziehen? Überall gäbe es Lücken. Was macht Mutters Chef ohne Schreibkraft? Was macht Gronski, wenn ich ihm nicht mehr das Auto zusammenflicke? Die Produktion stockt, der Jahresplan kommt ins Schleudern. Das kann sich kein Staat leisten.«
    »Du kannst von mir aus weiterreden wie einer von der Partei. Ich werde zu meinem Sohn kommen. Wir sind Deutsche und ich will nach Deutschland. Das ist unser Recht.«
    »Ach, Großmutter. Was sollen wir streiten.«
    Er dachte daran, wie oft er ihr schon gesagt hatte, dass auch der Staat Rechte habe und dass das sogenannte Recht des Einzelnen dagegen ein Nichts sei. Aber das führte nicht weiter. Sie rührte und rührte dann in ihrem Recht herum, bis es ein ganzer Berg war. Ein Berg aus Schaum, der jedes Mal zusammensank, wenn nach langen Wochen des Wartens wieder einmal der Bescheid der Behörde kam: Nein.
    »Hast du Hunger, Hans? Es ist noch Bohnengemüse da.«
    »Nein, Großmutter. Ich möchte nichts essen.«
    »Junge Männer in deinem Alter sollten kräftig essen.«
    »Ein andermal, Großmutter.«
    »Mittwoch werden wir die Anträge in die Stadt bringen. Sag es deiner Mutter. Sie soll um Urlaub fragen.«
    »Ja. Wie werdet ihr hinkommen?«
    »Na, mit dem Bus werden wir uns durchrütteln lassen. Hoffentlich kommt er pünktlich.«
    »Wir haben unsere Baustelle in der Stadt. Wenn ihr mitfahren wollt? Es geht um sieben
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