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Kristall der Macht

Kristall der Macht

Titel: Kristall der Macht
Autoren: Monika Felten
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Körper floss, und als hätte diese die Farben zurückgebracht, begann sich die Tafel aus Stein wie von Zauberhand zu verändern. In das einheitliche Rotbraun mischten sich mehr und mehr andere Farbtöne, und ein ehrfürchtiges Raunen lief durch die Reihen der Krieger, als sie erkannten, was vor sich ging.
    »Dann ist es gut.« Noelani seufzte und entspannte sich. Ihr letzter Blick galt Jamak, der sie so fest umklammerte, als könne er ihr Sterben damit aufhalten. »Nein«, schluchzte er unter Tränen. »Nein, nein …«
    »Nicht … weinen!« Mit letzter Kraft gelang Noelani ein Lächeln. Ein langer Atemzug füllte ihre Lungen, dann schloss sie die Augen. »Alles … wird … gut.«
     
    *  *  *
    Grau.
    Alles war grau. Und still.
    Noelani war allein. Sehen konnte sie nichts, dafür war es zu dunkel, aber sie wusste instinktiv, dass niemand in der Nähe war. Im hintersten Winkel ihres Bewusstseins blitzte der Gedanke auf, dass sie sich fürchten müsse, doch als sie in sich hineinhorchte, fand sie keine Regung. Keine Furcht und keine Besorgnis. Das graue dunkle Nichts, durch das sie sich bewegte, schien ihre Empfindungen ausgelöscht zu haben.
    Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was geschehen war, aber dieser Versuch scheiterte schon im Ansatz, und da sie keine Gefühle besaß, nahm sie auch die Erkenntnis, keine Erinnerungen zu besitzen, wie selbstverständlich hin.
    Alles war richtig, alles war gut. Das Grau war überall. Sie selbst war das Grau. Körperlos, ohne Gefühle und Erinnerungen, ohne Namen, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft, aber nicht ohne Ziel. Obwohl sie nicht wusste, wohin ihr Weg führte, war es doch offensichtlich, dass sie sich zielstrebig auf etwas zubewegte.
    Wie lange sie so dahintrieb, wusste sie nicht. Die Zeit, so schien es, spielte an diesem Ort keine Rolle. Dann entdeckte sie in der Ferne ein Licht, warm und einladend im allgegenwärtigen Grau. Es schien sie zu sich zu rufen, und ihr war, als ob sie nun schneller vorankam.
    Und irgendwann war sie nicht mehr allein. Eine Handvoll gesichtsloser grauer Gestalten bewegten sich in dem Grau und strebten mit ihr auf das Licht zu. Körperlos und doch nicht unsichtbar, mit fließenden Konturen wie sie. Schweigend gesellte sie sich zu ihnen.
    Das Licht war wichtig, das fühlte sie. Es war die Erfüllung. Das Ende und doch auch ein Anfang. Was immer vorher gewesen sein mochte, hier zählte es nicht, denn an diesem Ort lief alles zusammen, um jenseits des Leuchtens einen neuen Anfang zu nehmen.
    Aus der Ferne sah sie, wie eine Gestalt in das Leuchten trat und selbst zu einem Teil des Lichts wurde. Hell und frei. Der Anblick weckte eine große Sehnsucht in ihr. Schneller, sie wollte sich schneller bewegen, musste aber feststellen, dass sie machtlos war. So ließ sie sich treiben und wartete voller Ungeduld auf den Augenblick, in dem auch sie eins werden würde mit dem Licht.
    Als sie sehr nahe war, sah sie Gestalten, die sich schwebend in dem Licht bewegten. Auch sie waren konturlos, aber nicht grau, sondern strahlend und schön. Lichtgeschöpfe, wie sie bezaubernder nicht hätten sein können, hießen die grauen Gestalten willkommen, schlossen sie in die Arme und trugen sie davon, während das Grau verblasste und ein neues Lichtgeschöpf geboren wurde.
    Noelani konnte den Blick nicht von den Lichtgeschöpfen abwenden. Gleich! Gleich würde auch sie an der Reihe sein. Gleich würde auch sie …
    »Du nicht!«
    Ein Schatten schob sich vor das Licht, und sie spürte, wie sie aufgehalten wurde. Es war niemand zu sehen, aber die Worte hatten die Macht, sie aufzuhalten.
    »Warum?« Ihre Stimme bebte. So groß war die Sehnsucht nach Licht und Wärme, so groß die Furcht, das Licht nie zu erreichen.
    »Weil du nicht vollkommen bist. Gemeinsam seid ihr aufgebrochen, und nur gemeinsam könnt ihr zurückkehren. So lautet das Gesetz. Und jetzt …«
    »Sie ist nicht allein!« Wie aus dem Nichts tauchte eine graue Gestalt neben Noelani auf und gesellte sich zu ihr. »Gemeinsam sind wir aufgebrochen, und gemeinsam werden wir zurückkehren«, sagte sie, indem sie die Worte des Schattens wiederholte. Kaori! Der Name tauchte wie von selbst in Noelanis Gedanken auf. Kaori ist hier. Alles wird gut!
    »Wir sind bereit«, hörte sie Kaori sagen.
    Der Schatten zögerte einen Augenblick, als müsse er erst prüfen, ob Kaori die Wahrheit sagte, dann glitt er langsam zur Seite.
    »So hat zusammengefunden, was zusammengehört!«, hörte sie den Schatten sagen.
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