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Kristall der Macht

Kristall der Macht

Titel: Kristall der Macht
Autoren: Monika Felten
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war. Unerschütterlich in dem Glauben verhaftet, dass Nintau sicher war, hatte Kaori sie getröstet, so wie sie es auch heute noch tat, wenn der Luantar ihr im Traum auflauerte. Und wie schon so oft in den vergangenen Jahren gelang es Kaori auch jetzt, ihr ein wenig von der Zuversicht zu schenken, die sie selbst spürte.
    »Es war nur ein Traum«, sagte Kaori leise und löste die Umarmung ein wenig, damit Noelani sich aufrichten konnte. »Der Dämon wird uns niemals wieder ein Leid antun. Nicht, solange die Maor-Say über ihn und die fünf Geweihten wacht.«
    »Ich weiß.« Noelani nickte tapfer, wischte eine Träne fort und fügte entschuldigend hinzu: »Ich sage es mir immer wieder, aber der Traum will nicht weichen.«
    »Das nächste Mal nimm im Traum einen Bogen zur Hand und schieß ein paar Pfeile auf den Luantar«, riet Kaori. »Die alte Magobe sagt immer: ›Nur wer seine Ängste bekämpft, wird sie am Ende besiegen.‹«
    »Ich werde es versuchen.« Noelani nickte tapfer. Kaoris Worte und ihre Nähe taten ihr gut. Solange sie bei ihr war, würde ihr nichts geschehen.
    Der Mond wanderte weiter. Während die furchtbaren Traumbilder allmählich verblassten, legten sich die beiden Mädchen nieder, um noch ein wenig zu schlafen. Noelani entspannte sich. In dieser Nacht würde ihr der Luantar nicht mehr auflauern.
    Aber er würde wiederkommen.

1. Buch
    Der Atem des Todes

1
    Sorgsam darauf bedacht, kein Wasser zu verschütten, stellte Noelani die tönerne Schale auf dem niedrigen Tisch in der Mitte des Raums ab.
    Als sich die Wasseroberfläche beruhigt hatte, zog sie ein Kissen heran und kniete vor dem Tisch nieder. Sodann kreuzte sie die Arme vor der Brust, schloss die Augen und nahm einen tiefen Atemzug. Die schwülwarme Luft des Abends trug den Duft der Mondlilien in ihr Schlafgemach. Die Nachtblüher wuchsen überall an den Hängen des geweihten Bergs und öffneten ihre Kelche erst im Mondschein, damit sich die daumengroßen Nachtschweber an ihrem Nektar laben konnten. In den Legenden ihres Volkes hieß es, der Luantar selbst habe die Samenkörner der Lilie in seinen Exkrementen auf die Insel getragen, und keiner auf Nintau zweifelte daran, dass es genau so gewesen war.
    Für Noelani und all die anderen Frauen, die vor ihr als Maor-Say im Tempel über den Schlaf des Luantar gewacht hatten, waren die Lilien von unschätzbarem Wert. Der betörende Duft machte es ihnen leicht, den Geist vom Körper zu lösen und Dinge zu sehen, die ihren Augen sonst verborgen geblieben wären.
    Die Gabe, den eigenen Geist ohne die Beschränkungen des Körpers auf die Reise zu schicken, war das Zeichen der Maor-Say und nur wenigen auf der Insel angeboren. Oft gab es über Jahre hinweg keine Nachkommen mit dieser Gabe, aber wie durch ein Wunder hatte noch niemals eine Maor-Say dem Ende ihrer Lebensspanne entgegengesehen, ohne dass zuvor eine würdige Nachfolgerin oder ein Nachfolger geboren worden waren.
    Kaori …
    Der Name ihrer Zwillingsschwester tauchte unvermittelt in Noelanis Gedanken auf, und für einen Augenblick geriet ihre innere Ruhe ins Wanken. Ein leiser Seufzer entfloh ihren Lippen, während sie versuchte, den Schmerz und die Schuldgefühle zu verdrängen, die sie immer dann heimsuchten, wenn sie an ihre Schwester dachte. Obwohl sie seit Jahren dagegen ankämpfte und sich äußerlich nichts anmerken ließ, hatte sie die Nöte nie wirklich überwunden, die ihr die Wahl zur Maor-Say ins Herz getragen hatte.
    Sie selbst war immer die Zurückhaltende und Ängstliche gewesen, schüchtern und still. Nicht so stark wie Kaori, die mutig und selbstbewusst voranschritt und sich jeder Herausforderung stellte. Hatte jemand die beiden Mädchen angesprochen, war es immer Kaori gewesen, die geantwortet hatte, und wenn eine Entscheidung getroffen werden musste, hatte Noelani den Entschluss ihrer Schwester stets dankbar angenommen.
    Nachdem ihre Mutter die Gabe der Geistreise im Alter von fünf Jahren bei ihren Töchtern entdeckt hatte, waren alle überzeugt gewesen, dass Kaori es sein würde, die eines fernen Tages im Tempel leben und über den Schlaf des Luantar wachen würde. Wie selbstverständlich hatte man damit begonnen, Kaori auf die wichtige Aufgabe vorzubereiten, und wie selbstverständlich hatte Noelani es akzeptiert.
    Im Schatten ihrer vielbeachteten Schwester hatte sie fast sechzehn Jahre lang ein unauffälliges Leben geführt. Ein angenehmes Leben ohne Zwänge und Erwartungen, das ihrem scheuen Gemüt entsprach und an
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