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Kristall der Macht

Kristall der Macht

Titel: Kristall der Macht
Autoren: Monika Felten
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gesehen hatte. Ringsumher gab es nichts als Wasser, doch sosehr sie ihre Sinne auch anstrengte, nirgends fand sie eine Spur der Waitun.
    Halte ein! Du gehst zu weit!
    Die mahnende Stimme in ihrem Bewusstsein erinnerte sie daran, dass sie die Grenzen der Geistreise zu überschreiten drohte. Selbst unter dem Einfluss der Liliendüfte durfte sie sich nicht weiter als einen Tagesmarsch von ihrem Körper entfernen. Die Gefahr, dass die Verbindung abriss und Körper und Geist für immer getrennt blieben, war zu groß.
    Nur ein kleines Stück noch.
    Noelani keuchte vor Anstrengung.
    Sie müssen hier sein. Ich weiß es.
    Verbissen kämpfte sie sich voran. Stück für Stück, ohne auf die Stimme zu achten, die sie immer lauter drängte, endlich kehrtzumachen. Die unsichtbaren Bande, die Körper und Geist zusammenhielten, spannten sich und machten ihr jede Bewegung doppelt schwer. War sie zunächst noch mühelos durch das Wasser geglitten, hatte sie nun das Gefühl, kaum noch voranzukommen.
    Kehr um! Du wirst sterben.
    Noelani wusste, dass die Stimme recht hatte, aber die Furcht zu versagen ließ sie alle Vorsicht vergessen. Sie hatte das Waitunfest für den kommenden Abend ausrufen lassen. Alle würden kommen, um das Ende der Regenzeit zu feiern. Alle!
    Noelani schluchzte auf. Ihr Blick irrte umher, aber wohin sie auch sah, welche Richtung sie auch einschlug, überall bot sich ihr das gleiche Bild: nachtblaues Wasser, vom Mondlicht durchflutet – verlassen.
    Panik stieg in ihr auf, als ihr bewusst wurde, dass keine Schildkröten kommen würden. Sie hatte sich geirrt. Zehn Jahre hatte man sie auf diesen Augenblick vorbereitet, und nun hatte sie versagt. Versagt. Versagt!
    Noelani schnappte nach Luft. Ihr Herz raste. Das Bild, das sie im Geist heraufbeschworen hatte, begann zu verschwimmen.
    Nein, nein! Nicht jetzt. Ich muss die Schildkröten suchen.
    Noelani nahm all ihre Kraft zusammen und rang die aufkommende Schwäche nieder. Obwohl sie zu Tode erschöpft war, gelang es ihr noch einmal, in den Ozean zurückzukehren und ein Stück weit gegen den Strom zu schwimmen. Dann durchzuckte ein beißender Schmerz ihr Bewusstsein, ließ das Bild vor ihren Augen erlöschen und raubte ihr die Sinne.
    Die Ohnmacht dauerte nur wenige Augenblicke. Als Noelani die Augen öffnete, fand sie sich am Boden liegend vor dem Tisch wieder. Die tönerne Schale war heruntergefallen und zerbrochen, das geweihte Wasser über den ganzen Lehmboden verspritzt. Ihr Kleid aus feinem Gewebe war nass und schmutzig. Ihr Kopf schmerzte, und doch konnte sie sich sofort wieder daran erinnern, was geschehen war. Und sie begriff, welch ein Glück sie gehabt hatte.
    Ich hätte tot sein können! Der Gedanke jagte ihr einen Schauder über den Rücken. Die alte Maor-Say war nicht müde geworden, sie vor den Gefahren einer Geistreise zu warnen. Zum einen führte der Weg durch eine Sphäre, in der sich die Seelen Verstorbener aufhalten konnten, zum anderen mochte es den Tod bedeuten, wenn man sich bei einer solchen Reise zu weit von dem eigenen Körper entfernte. Noelani hatte den Ermahnungen aufmerksam gelauscht und verstehend genickt, doch erst jetzt, da sie dem Tod so nahe gewesen war, verstand sie wirklich, warum ihre Lehrmeisterin das getan hatte.
    Ermattet hob Noelani den Kopf und blickte zum Fenster. Der Morgen war noch nicht angebrochen. Sie erwog, Jamak zu wecken, um ihm zu berichten, was sie gesehen hatte, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Solange es noch die Spur einer Hoffnung gab, dass die Waitun kommen würden, wollte sie ihn nicht mit ihren Sorgen belasten.
    Noch war nichts verloren. Das Fest sollte erst am Abend stattfinden. Wenn sie geschlafen und sich ausgeruht hatte, würde sie sich noch einmal auf die Suche nach den Schildkröten begeben. Wenn sie auch dann keinen Erfolg hatte, war es immer noch früh genug, mit ihm darüber zu sprechen.
    Jamak. Ein dünnes Lächeln umspielte Noelanis Lippen, als sie an ihren treuen Diener dachte, der doppelt so alt war wie sie. Seit sie im Alter von zehn Jahren in den Tempel gekommen war, war er Tag und Nacht für sie da. Die verstorbene Maor-Say hatte ihr den rundlichen, wortkargen Diener, dessen Gesicht sich schon bei der geringsten Anstrengung rötete, als Lehrer und Beschützer zur Seite gestellt. Seither war er nicht von ihrer Seite gewichen und hatte auch dann nicht die Beherrschung verloren, wenn sie mal wieder groben Unfug angestellt hatte. Mit den Jahren war er für sie unentbehrlich geworden.
    Er
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