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Vogelwild

Vogelwild

Titel: Vogelwild
Autoren: Richard Auer
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EINS
    Morgenstern war betrunken: Erst summte er
noch leise und zurückhaltend, dann sang er immer lauter den alten Gassenhauer
von Tom Petty mit, der aus den Boxen der Kneipe tönte. »I’m
learning to fly …«, sang Tom Petty, und Morgenstern vollendete den
Refrain: »… but I ain’t got wings.« Ich lerne
das Fliegen – aber ich habe keine Flügel. Mochten andere Gäste ihm auch
irritierte Blicke zuwerfen, selbst das konnte Morgenstern an diesem Abend nicht
bremsen. Er hatte beste Laune – und bereits fünf Guinness getrunken. Große
Pint-Gläser Guinness. Mike Morgenstern hatte sich an diesem späten Montagabend
Anfang Juni von seiner Gattin Fiona spontan freigeben lassen. Kurz vor zehn war
er die paar hundert Meter zum irischen Pub in der Eichstätter Altstadt
geschlendert, hatte sich am Tresen niedergelassen, eine Pizza verspeist und
sich im Laufe von drei Stunden dem sämigen, dunklen und bittersüßen Bier
gewidmet, in dessen Schaumkrone der Wirt am Zapfhahn ein kleines Kleeblatt
gemalt hatte.
    Fünf Guinness, das war Oberkommissar Mike Morgenstern
mit seinen zweiundvierzig Jahren nicht mehr gewohnt. In seiner Jugend hatte er
Alkohol deutlich besser vertragen, zumindest kam ihm das rückblickend so vor.
Aber jetzt konnte er schon ahnen, dass sein Bierkonsum am nächsten Morgen einen
Brummschädel zur Folge haben würde. Seine Karaoke-Einlage war schon ein
sicheres Indiz dafür, dass es zu viel geworden war, aber eindeutig wurde es ihm
klar, als er nach dem Bezahlen auf die Straße und hinaus in die sternenklare
Sommernacht trat. Hoppla! Eben, auf dem Weg zum Ausgang des Pubs, hatte
Morgenstern sich noch sicher bewegt, aber jetzt, an der frischen, kühlen Luft,
hatte er leichte Probleme, seinen angestrebten Kurs zu halten. Zum Glück war es
nicht weit bis nach Hause. Er musste nicht einmal eine U-Bahn nehmen, so wie früher
in Nürnberg. Bei dem Gedanken lächelte Morgenstern melancholisch.
    Leise noch Tom Pettys Lied summend marschierte er vom
Markt-in Richtung Domplatz. Von einem der Dom-Doppeltürme schlug die Uhr
gerade eins. Kein Auto war unterwegs, nichts regte sich.
    Hier sind wirklich alle Gehsteige hochgeklappt, dachte
Morgenstern. Weil er fröstelte, knöpfte er sich die Jeansjacke bis zum Hals zu.
Die Absätze seiner abgewetzten braunen Cowboystiefel klackerten laut auf dem
Granitpflaster. Zusammen mit dem Echo, das sie von den alten Häuserfronten
zurückwarfen, hätte man annehmen können, eine Pferdekutsche sei am Heranrollen.
Morgenstern grinste in sich hinein. In der nächtlichen Stille war er nicht zu
überhören: klack, klack, klackerdiklack.
    In der Mitte des Platzes hob sich das Kriegerdenkmal
schwarz vom Himmel ab. Auf der runden, steinernen Säule thronte ein Löwe,
dessen linke Tatze auf einer Kugel ruhte. Morgenstern hielt kurz inne, schaute
zum Löwen hinauf und musste dabei feststellen, wie sich der Himmel über ihm
leicht drehte. Nein, er selbst war es, der sich drehte! Ihm war schummrig,
seine Beine fühlten sich wie Gummi an, und er benötigte dringend eine Toilette.
Da das öffentliche WC am Domplatz nachts zum
Schutz vor Vandalen verschlossen war, sollte er zusehen, dass er schnellstens
nach Hause kam. Als Polizeibeamter konnte er sich wohl schlecht an irgendeiner
x-beliebigen Hausecke erleichtern.
    In diesem Moment wurde er durch ein Geräusch in seinen
Gedanken gestört. Es kam ganz aus der Nähe, vom Hauptportal des Doms. Etwas
Metallisches war dort zu Boden gefallen, das Echo hatte die Lautstärke des
Aufpralls wie in einer Arena verstärkt. Der Platz vor dem Dom, auf dem sich am
Tag die parkenden Autos drängten, war um diese Uhrzeit fast leer. Morgenstern
hielt den Atem an, lauschte in die Nacht. Still war es jetzt, ganz still. Er
starrte zum Domportal hinüber, konnte aber keine Menschenseele entdecken. War
das nicht auch egal? Er klackerte ein paar Schritte weiter, blieb dann nochmals
stehen und blickte zum Dom hinüber. Ein Graffiti! Neben das Portal war rechts
ein Graffiti gesprüht worden, ein paar Buchstaben nur, die aber jeder immerhin
einen Meter hoch waren.
    Morgenstern mochte keine Graffitis. Mehr noch, er
hasste sie und war der festen Überzeugung, dass diese Schmierereien die ersten
Zeichen von Verwahrlosung und Niedergang seien, die Vorboten des Faustrechts,
der Anarchie. Mit moderner Kunst brauchte ihm da keiner zu kommen, genauso
wenig wie mit der jugendlichen Form von politischer Meinungsäußerung. Für ihn
war das alles nur Geschmiere.
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