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Krieg der Sänger

Krieg der Sänger

Titel: Krieg der Sänger
Autoren: Robert Löhr
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und Walther stimmten bei der Wiederholung des Refrains
mit ein, und die folgenden Strophen, die sie nicht kannten, summten sie mit,
bald sogar mehrstimmig. Die Stimmen verflochten sich im Dunkel des Saales zur
Vollkommenheit.
    Biterolf hingegen verstummte, als Agnes schneller zu atmen begann.
Seine Lippen formten lediglich noch die Wörter. Er hielt ihre kalte Hand, hielt
den Blick ihrer aufgerissenen Augen, lauschte dem Geisterchor der Sänger, die
wie die Nachtigallen der Sterbenden den Tod versüßten. Ein letztes Mal
verkrampften sich Agnes’ Fäuste um die Püppchen und um Biterolfs Hand. Dann
sank sie mit halb geschlossenen Lidern in die Kissen.
    Im Dunkeln entfuhr Walther, ausgerechnet Walther, ein Schluchzer.
Biterolf trocknete sich die Augen mit dem Ärmel. Neue Tränen kamen nicht nach.
Er griff nach einer Armbrust und legte einen Bolzen auf den Steg. Dann humpelte
er aus dem Saal, um am nächstbesten Thüringer Vergeltung zu üben. Niemand hielt
ihn zurück. Ganz leise hörte man aus Eisenach den Glockenschlag der
Georgenkirche.
    Für Reinmar hatte es keine Gründe mehr gegeben, auf der Wartburg
zu bleiben: Von dem Moment an, da er seine Rolle gespielt hatte, konnte diese
Herberge für ihn nur unwirtlicher werden. Aber er hatte die Burg dennoch nicht
verlassen können. Als Walther aus der Schlacht nicht zurückkehrte, wusste Reinmar,
dass er bleiben musste, um Walther, falls dieser noch lebte, aus den Händen des
Ofterdingers zu befreien. Nach allem, was geschehen war, würde man Reinmar im
Festsaal zwar nur ungern anhören – und das mit vollem Recht –, aber man würde ihn anhören.
    Da ihn die Thüringer zweifelsohne davon abgehalten hätten, beschloss
er, sich erst im Schutz der Dunkelheit zum Palas zu begeben. Auf seine
Blindenführerin verzichtete er. Klara war seit dem Sängerstreit eh eine
unleidliche Gesellschaft; plötzlich frei von jenem Übermut, der sie zuvor so
liebenswert gemacht hatte.
    Draußen schneite es dicke Flocken. Reinmar arbeitete sich an den
Mauern voran bis zum Tor zur Hauptburg. Dann zählte er die Schritte; immer
bemüht, auf dem eisigen Untergrund nicht auszugleiten. Er würde einiges
wiedergutmachen. Wolfram, Heinrich und der Kleine würden ihm Gehör schenken,
denn er war ihrer aller Lehrer und Wegbereiter; ohne seine Kunst wären sie
vielleicht nie Künstler geworden. Er würde mit den Aufrührern sprechen, würde
Öl auf die Wogen gießen und Walthers Leben retten: ein letzter und gleichzeitig
der größte Beweis dafür, dass er Walther nichts nachtrug. Gott würde ihm seine
Käuflichkeit vergeben. Und vielleicht würde es sogar Heinrich tun. Aus dem Tal
klang Glockengeläut.
    Noch während Reinmar darüber nachdachte, ob er im Palas die Treppe
hinaufsteigen sollte, um das Gespräch in Ruhe und mit einem Dach über dem Kopf
zu führen, oder ob es sicherer wäre, vom Hof aus mit den Sängern zu sprechen,
schlug etwas direkt neben dem Hals in seine linke Schulter ein. Es fühlte sich
an, als hätte ihm ein Adler aus dem Sturzflug seine Krallen ins Fleisch
gegraben. Reinmar taumelte einen Schritt zurück, blieb aber auf den Beinen. Er
griff nach der Wunde. In seiner Schulter steckte ein Armbrustbolzen. Der
Schmerz kam mit Verzögerung und war enorm.
    Das Gespräch mit Heinrich und den anderen musste verschoben werden.
Er musste einen Arzt aufsuchen. Reinmar versuchte sich zu erinnern, in welcher
Richtung das Badehaus lag, in dem die Verwundeten behandelt wurden, aber der
Schmerz trübte seinen Geist. Aufs Geratewohl lief er los, die rechte Hand nach
einer Mauer ausgestreckt, die ihn zum Badehaus leiten würde.
    Zu spät begriff er, dass er dazu eher auf- als abwärts hätte gehen
müssen. Er stieß sich das Schienbein so stark an einer steinernen Bank, dass er
sich erst einmal daraufsetzen musste, bis dieser neue Schmerz abgeklungen war.
Abermals versuchte er, sich zu orientieren. Er war vom Palas aus
abwärtsgelaufen und saß nun auf einer Bank. Er musste also im Rosengarten
gelandet sein. Zumindest hatte er sich noch nicht vollkommen verlaufen. Ein
paar Atemzüge Rast, dann schleunigst zum Badehaus.
    Er griff nach dem Ende des Bolzens, in der Annahme, er sitze fest
wie ein Nagel im Holz. Zu seiner Erleichterung ließ sich das Geschoss recht
leicht aus seinem alten Fleisch ziehen. Allerdings konnte es auch ein Fehler
gewesen sein, es selbst herauszuziehen und diese Aufgabe nicht dem Arzt zu
überlassen. Reinmar spürte, wie warmes Blut Hemd und Mantel tränkte.
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