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Krieg der Sänger

Krieg der Sänger

Titel: Krieg der Sänger
Autoren: Robert Löhr
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Offenbar
hatte der Bolzen gewirkt wie der Stopfen in einem Weinfass. Aber zurückstecken
konnte er ihn auch nicht. Reinmar presste die Hand auf die Wunde, um die
Blutung zu stillen. Seine Hand war umgehend nass; unten nass und warm vom Blut
und oben nass und kalt vom Schnee, der auf den Handrücken fiel und schmolz.
    Gut: Er sollte jetzt wirklich aufstehen. Aber die Bank war niedrig,
und er hatte keine freie Hand, sich abzustützen: Die eine war vom Treffer
betäubt, die andere hielt das Spundloch verschlossen. Reinmar befand sich in
einer misslichen Lage. Er seufzte. Er hätte Klara doch bitten sollen, ihn zu
führen. Er hörte etwas und drehte sich nach dem Geräusch um.
    Über den Burghof kam eine Gruppe von acht, vielleicht zehn Menschen
auf ihn zu, Männer wie Frauen. Reinmar atmete auf und schrie: »Hier!« Darauf
löste sich ein Mann aus der Gruppe und trat zu Reinmar. »Gott sei gepriesen«,
stöhnte der Hagenauer, »dass sich doch noch jemand nachts und in diesem Wetter
vor die Tür traut. Helft mir auf, ich bitte Euch.«
    »Das ist eine üble Wunde, Trobador«, stellte der Mann fest.
    »Das könnt Ihr laut sagen.«
    »Ich hatte so etwas auch einmal. Diese Bolzen sind tückisch.« Mit
der Fußspitze trat er gegen den Bolzen, den Reinmar in den Schnee hatte fallen
lassen.
    »Aber Ihr habt es überlebt, gottlob«, sagte Reinmar.
    »Nein.«
    Reinmar runzelte die Stirn und musterte den Mann etwas genauer.
Jetzt erkannte er ihn wieder: Der stattliche Wuchs, die einnehmenden
Gesichtszüge, die goldene Lockenmähne – vor ihm stand Richard Plantagenet,
genannt Löwenherz, der König von England.
    Und noch während sich Reinmar fragte, was Richard Löwenherz auf der
Wartburg machte, wo er doch eigentlich in England sein musste und vor allem
tot, überwältigte ihn eine viel größere Frage: weshalb er nämlich den König und
seine Begleiter und den Burghof und den Schnee überhaupt sehen konnte. Und da fiel ihm das Versprechen der Heiligen Schrift ein, der Herr
würde die Blinden in der Ewigkeit wieder sehend machen, aber da war es längst
zu spät, noch etwas gegen irgendetwas auszurichten, und er nahm die Hand von
seiner Schulter.
    Wolfram, Biterolf und Ofterdingen hatten sich darauf geeinigt,
am Ende der Nacht einen Ausfall zu wagen. In der Hoffnung, die Thüringer wären
durch den andauernden Misserfolg zu müde, ihre Flucht zu bemerken, oder
zumindest zu mürbe, ihnen noch eine Streitmacht entgegenzustellen, wollten sie
zu den Ställen schleichen, die Pferde satteln, die Wachen am Torhaus
überwältigen und davonreiten. Viel wahrscheinlicher war es jedoch, dass der
Burghof nur deshalb verlassen war, um die drei endlich aus ihrer Festung
herauszulocken und dann niederzuwalzen. Walther half den dreien dabei, die
Verbände zu wechseln. Den Rest ihrer Verpflegung teilten sie unter sich auf.
    »Wir zwei beim Abendmahl ums Feuer«, sagte Ofterdingen zu Walther.
»Meine Güte, das hat es seit Akkon nicht gegeben. Schinken?«
    »Eher fress ich rohe Krebse«, brummte Walther.
    Ofterdingen nahm Fiedel und Bogen auf. »Möchte noch jemand spielen?
Wolf? Biterolf?«
    Wolfram schüttelte den Kopf, und Biterolf entgegnete: »Ich spiele
nie wieder.«
    »Was soll das heißen?«
    »Ich durfte erleben, wie Heinrich von Ofterdingen, Wolfram von
Eschenbach und Walther von der Vogelweide gemeinsam eines meiner Lieder
gesungen haben. Sollte ich danach etwa zurückkehren ins Stilletal, um dort auf
Hochzeiten und an der Tafel ignoranter Landjunker zu spielen? Ihr habt doch
selbst gesagt, ich sei nur mäßig begabt und wäre besser aufgehoben als
Zahlmeister oder Forstmann. – Da, niemand widerspricht mir.«
    »Hör mal, Biterolf –«
    »Besser wäre es vielleicht, ich stürbe morgen. Das wäre die
Vollendung meines kurzen Lebens. Sterben in Gegenwart der drei größten Sänger,
die Deutschland je kannte.«
    Die anderen schwiegen. Wolfram beugte sich zu Biterolf vor. Für
einen Moment sah es so aus, als wolle der Eschenbacher ihn in die Arme
schließen, doch dann beschied er sich damit, Biterolf die Schultern zu drücken.
Das Feuer drohte zu erlöschen. Heinrich von Ofterdingen legte seine Fiedel auf
die kümmerlichen Reste im Kamin und schob sie mit dem Bogen zurecht, bevor er
auch diesen, bereits an der Spitze brennend, ganz hinterdreinwarf. Die Saiten
sprangen in absteigender Reihenfolge. Dann ging der Resonanzkörper in Flammen
auf.
    Biterolf übernahm die erste Wache im Saal. Während sich Wolfram und
Ofterdingen auf den
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