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Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Titel: Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
Autoren: Sofja Lew u. Tolstaja Tolstoi
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ihnen.) Alle wissen davon, und alle tun, als wüssten sie es nicht. In jedem Roman werden die Gefühle des Helden, die Teiche und Sträucher, an denen er vorübergeht, bis in alle Einzelheiten beschrieben; aber bei all diesen Beschreibungen seiner großen Liebe zu irgendeinem Mädchen fällt kein Wort über das, was vorher mit unserem interessanten Helden geschah: kein Wort über seine Besuche in gewissen Häusern, über Dienstmädchen, Köchinnen, anderer Leute Frauen. Und wenn es doch solche unanständigen Romane geben sollte, so gibt man sie zuallerletzt denen in die Hand, die darüber als Erste etwas wissen sollten – den jungen Mädchen. Erst täuscht man nur die Mädchen und tut, als gäbe es jenes liederliche Leben gar nicht, von dem die Hälfte unserer Städte und selbst der Dörfer voll ist. Allmählich aber gewöhnt man sich so an diese Verstellung, dass man, wie die Engländer 8 , fast selbst aufrichtig zu glauben anfängt, wir wären moralische Menschen und lebten in einer moralischen Welt. Die armen jungen Mädchen jedenfalls glauben daran allen Ernstes. Auch meine unglückliche Frau hat daran geglaubt. Ich weiß noch, wie ich ihr, schon in der Brautzeit, mein Tagebuch zeigte, aus dem sie zumindest ein wenig über meine Vergangenheit
erfahren konnte, vor allem über meine letzte Liaison, von der sie auch von anderer Seite hätte hören können und von der sie zu unterrichten mir deshalb unumgänglich schien. Ich weiß noch, wie entsetzt, verzweifelt und verstört sie war, als sie das erfuhr, als sie es begriff. Ich konnte sehen, dass sie mich am liebsten verlassen hätte. Warum nur hat sie es nicht getan!»
    Er machte wieder sein Geräusch und nahm noch einen Schluck Tee.

VI
    «Aber nein, so ist es besser!», rief er.«Es geschieht mir ganz recht! Doch darum geht es nicht. Ich wollte sagen, dass die einzigen Betrogenen hier die armen jungen Mädchen sind. Die Mütter wissen ja Bescheid; besonders jene Mütter, die von ihren Männern erzogen wurden, wissen alles nur zu gut. Sie tun, als glaubten sie an die Reinheit der Männer, aber in Wirklichkeit handeln sie ganz anders. Sie wissen, wie man sich und den Töchtern einen Mann angelt.
    Nur wir Männer wissen angeblich nicht – freilich nur, weil wir es nicht wissen wollen -, was die Frauen ganz genau wissen: dass noch
die edelste, poetischste Liebe, wie wir es nennen, nicht von moralischen Vorzügen abhängt, sondern von physischer Nähe, von Frisuren, von Farbe und Schnitt eines Kleides. Fragen Sie eine erfahrene Verführerin, die sich vorgenommen hat, einen Mann zu erobern, was sie lieber riskieren würde: in Gegenwart desjenigen, den sie umgarnt, bei einer Lüge oder Grausamkeit ertappt oder gar eines liederlichen Lebenswandels überführt zu werden, oder sich ihm in einem schlecht gearbeiteten, hässlichen Kleid zu zeigen – sie wird immer das Erste vorziehen. Sie weiß, dass wir Männer lügen, wenn wir von edlen Gefühlen reden – nur der Körper zählt für uns, und darum verzeihen wir jede Gemeinheit, aber niemals eine hässliche, geschmacklose, unvorteilhafte Aufmachung. Der Verführerin ist das wohl bewusst; unbewusst aber, nach Art der Tiere, weiß das auch jedes unschuldige junge Mädchen.
    Daher all die widerlichen Jerseytaillen, die aufgepolsterten Hinterteile, die nackten Schultern, Arme, ja Brüste. Frauen, besonders solche, die die Schule der Männer durchlaufen haben, wissen genau, dass hochtrabende Gespräche schön und gut sind, dass der Mann aber den Körper will und alles, was diesen Körper in einem
verführerischen Licht zeigt – und sie handeln dementsprechend. Uns sind diese Gräuel zur zweiten Natur geworden, aber wenn man die Gewöhnung daran einmal abstreift und das Leben unserer oberen Schichten so betrachtet, wie es ist, in all seiner Schamlosigkeit, dann sieht man ein einziges Bordell. Sie sind anderer Meinung? Ich kann es beweisen, wenn Sie erlauben», schnitt er mir das Wort ab.«Sie sagen, unsere Damen der Gesellschaft hätten andere Interessen als die Frauen in einem Bordell – ich sage, das haben sie nicht, und ich werde es beweisen. Wenn Menschen sich nach ihrem Lebenszweck, nach dem inneren Gehalt ihres Lebens unterscheiden, dann spiegelt sich dieser Unterschied zwangsläufig auch im Äußeren wider, ihre äußere Erscheinung ist dann nicht dieselbe. Und nun betrachten Sie die Frauen – hier jene unglücklichen, verachteten Wesen, dort die vornehmsten jungen Damen der großen Welt: dieselbe Mode, dieselben
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