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Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Titel: Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
Autoren: Sofja Lew u. Tolstaja Tolstoi
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in unseren Kreisen war ich dabei überzeugt, richtig zu leben. Ich hielt mich für einen netten Kerl, einen durchaus moralischen Menschen. Ich war kein Verführer
und hatte keine unnatürlichen Neigungen, ich machte aus dem Laster nicht meinen hauptsächlichen Lebenszweck, wie viele meiner Altersgenossen es taten, sondern frönte ihm auf eine solide, wohlanständige Weise, der Gesundheit zuliebe. Frauen, die mich durch die Geburt eines Kindes oder durch eine besondere Anhänglichkeit hätten binden können, ging ich aus dem Weg. Das heißt, es mag wohl Kinder und auch Anhänglichkeiten gegeben haben, aber ich tat so, als gäbe es sie nicht. Und gerade das hielt ich nicht nur für moralisch, ich war sogar stolz darauf.»
    Er stockte und machte sein Geräusch, wie er es offenbar immer tat, wenn ihm ein neuer Gedanke kam.
    «Dabei ist das ja gerade das Abscheulichste», rief er aus.«Das Laster ist ja nichts Physisches, und etwas physisch Abnormes ist noch lange nicht lasterhaft; das Laster, das wahre Laster liegt vielmehr genau darin, dass man physisch mit einer Frau verkehrt, sich aber von jedem moralischen Verhältnis zu ihr freispricht. Ebendiesen Freispruch rechnete ich mir zur Ehre an. Ich weiß noch, wie ich mich quälte, als ich einmal versäumt hatte, eine Frau zu bezahlen, die sich mir wohl aus Liebe hingegeben hatte. Ich beruhigte
mich erst, nachdem ich ihr Geld geschickt und damit gezeigt hatte, dass ich mich moralisch durch nichts an sie gebunden fühlte. Hören Sie auf mit dem mitfühlenden Kopfschütteln!», schrie er mich plötzlich an.«Diesen Schwindel kenne ich doch! Sie alle, auch Sie, wenn Sie nicht eine seltene Ausnahme sind, Sie alle teilen dieselben Auffassungen wie ich damals. Nun, sei’s drum, verzeihen Sie mir», fuhr er fort,«es ist nur so grauenvoll, grauenvoll, ganz grauenvoll!»
    «Was ist grauenvoll?», fragte ich.
    «Der Abgrund von Verirrung, in dem wir leben, was die Frauen und unser Verhältnis zu ihnen angeht. Darüber kann ich nicht gelassen sprechen, und zwar nicht deshalb, weil mir diese sogenannte Episode zugestoßen ist, sondern weil mir nach dieser Episode die Augen aufgegangen sind und ich seither alles in einem ganz anderen Licht sehe. Alles ist verkehrt, ganz verkehrt!»
    Er zündete sich eine Zigarette an, stützte die Ellbogen auf die Knie und begann zu sprechen.
    In der Dunkelheit konnte ich sein Gesicht nicht sehen, ich hörte nur seine eindringliche, wohlklingende Stimme, die durch das Geschepper des Waggons drang.

IV
    «Ja, erst nachdem ich all das durchgemacht hatte, erst dadurch habe ich erkannt, wo alles seine Wurzel hat, ich habe erkannt, wie es sein sollte, und darum auch, wie grauenvoll die Wirklichkeit ist.
    Ich kann Ihnen sagen, wie und wann die Dinge ihren Anfang nahmen, die mich zu meiner Episode geführt haben. Es begann, als ich knapp sechzehn Jahre alt war. Damals war ich noch auf dem Gymnasium, mein älterer Bruder aber studierte schon im ersten Jahr an der Universität. Ich kannte noch keine Frauen, aber ich war, wie all die unglücklichen Kinder unserer Kreise, auch kein unschuldiger Junge mehr: Schon ein Jahr zuvor hatten die anderen Jungen mich verdorben; die Frau – nicht eine bestimmte, sondern die Frau als süßes Etwas, die Frau überhaupt, jede Frau, die Nacktheit der Frau – war mir schon eine Qual. Meine einsamen Stunden waren unrein. Ich quälte mich, wie sich neunundneunzig von hundert Knaben bei uns quälen. Mir graute, ich litt, ich betete und sündigte von Neuem. In meiner Vorstellung wie in der Wirklichkeit war ich schon verdorben, aber den letzten Schritt hatte ich noch nicht getan. Ich
ging zugrunde, aber noch, ohne Hand an ein anderes menschliches Wesen zu legen. Doch da überredete uns ein Kamerad meines Bruders – es war der, der uns auch das Trinken und Kartenspielen beigebracht hatte, ein fideler Student und das, was man einen feinen Kerl nennt, also ein Halunke der übelsten Sorte -, nach einer Zecherei noch an jenen Ort zu fahren. Wir fuhren mit. Auch mein Bruder war noch unschuldig, er fiel in derselben Nacht. Und ich, ein fünfzehnjähriger Junge, besudelte mich selbst und trug dazu bei, dass eine Frau besudelt wurde, ohne im Mindesten zu begreifen, was ich tat. Von keinem der Älteren hatte ich gehört, dass das, was ich tat, schlecht sei. Und auch heute hört das niemand. Es steht zwar in den Geboten, aber die Gebote muss man ja nur kennen, um dem Priester während der Prüfung Rede und Antwort zu stehen, und auch
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