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Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Titel: Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
Autoren: Sofja Lew u. Tolstaja Tolstoi
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dabei so streng und siegessicher den Kopf zurück, dass der Kommis sofort beschloss, der Kaufmann habe gewonnen, und laut loslachte.
    «Das sind nur die Männer, die so denken», beharrte die Dame mit einem Seitenblick auf uns,«für sich beanspruchen sie Freiheit, aber die
Frauen wollen sie in ihre Gemächer einsperren. Sich selbst erlauben Sie doch alles.»
    «Erlauben tut niemand etwas, nur schleppt der Mann nichts ins Haus; die Frau aber – das Weib ist ein schwaches Gefäß 4 », fuhr der Kaufmann fort.
    Sein Nachdruck wirkte sichtlich überzeugend auf die Zuhörer; sogar die Dame spürte, dass sie ihm unterlegen war, gab jedoch noch nicht auf.
    «Aber Sie werden mir wohl zustimmen, dass eine Frau ein Mensch ist und ebenso Gefühle hat wie ein Mann. Was soll sie denn tun, wenn sie ihren Mann nicht liebt?»
    Der Kaufmann runzelte die Stirn und verzog den Mund.«Wenn sie ihn nicht liebt!», wiederholte er grimmig.«Dann wird sie ihn schon lieben lernen!»
    Dieses überraschende Argument gefiel dem Kommis ganz besonders, er gab einen zustimmenden Laut von sich.
    «Aber nein, das wird sie nicht», widersprach die Dame,«und wo keine Liebe ist, kann man sie auch nicht erzwingen.»
    «Und wenn die Frau den Mann betrügt, was ist dann?», sagte der Anwalt.
    «Das darf nicht sein», sagte der Alte,«da muss man aufpassen.»

    «Wenn es aber doch passiert, was ist dann? Es kommt schließlich vor.»
    «Es mag schon vorkommen, aber nicht bei uns», sagte der Alte. Alle schwiegen. Der Kommis regte sich, offenbar wollte er auch etwas beitragen. Er rückte noch etwas näher und begann lächelnd:«Bei uns, mit Verlaub, gab es auch einen tüchtigen Burschen, dem ist auch so ein Skandal passiert. Auch wieder schwer zu beurteilen. Ein liederliches Weib war das, an das er geraten ist. Eines Tages fing sie an, über die Stränge zu schlagen. Der Mann ist ein ernsthafter Bursche, mit Bildung. Aber sie – erst tut sie dem Schreiber schön. Er versucht noch, ihr gut zuzureden. Sie lässt nicht nach. Eine Gemeinheit nach der anderen tut sie ihm an. Fängt an, ihm Geld zu stehlen. Also hat er sie geschlagen. Aber es wurde immer schlimmer mit ihr. Mit einem Ungetauften, einem Juden, mit Verlaub, hat sie sich eingelassen. Was hätte er tun sollen? Schließlich hat er sie verlassen. Jetzt lebt er allein, und sie treibt sich herum.»
    «Weil er ein Dummkopf ist», sagte der Alte.«Hätte er ihr am Anfang nicht die Zügel schießen lassen, sondern sie recht an die Kandare genommen, dann wäre sie jetzt noch da. Man darf ihnen erst gar keine Freiheit geben. Trau
keinem Pferd auf dem Feld und keiner Frau im Haus.»
    In diesem Moment kam der Schaffner und sammelte die Fahrkarten bis zur nächsten Station ein.
    Der Alte gab ihm seine Fahrkarte.«Jawohl, rechtzeitig kurzhalten muss man das Weibergeschlecht, sonst ist alles verloren.»
    «Aber Sie haben doch selbst eben noch von verheirateten Männern erzählt, die sich während der Messe in Kunawino vergnügen?», platzte ich heraus.
    «Das ist etwas anderes», sagte der Kaufmann und versank in Schweigen.
    Beim ersten Pfeifen stand er auf und holte seinen Reisesack unter der Bank hervor, hüllte sich in seinen Mantel, lüpfte die Mütze und ging hinaus auf die Bremsplattform.

II
    Kaum war der Alte gegangen, erhoben sich mehrere Stimmen gleichzeitig.
    «Da geht sie hin, die alte Zeit», sagte der Kommis.
    «Das leibhaftige Mittelalter», sagte die Dame.
«Was für absurde Vorstellungen von Frauen und Ehe!»
    «Nun ja, von der europäischen Auffassung der Ehe sind wir noch weit entfernt», sagte der Anwalt.
    «Was diese Leute vor allem nicht verstehen», sagte die Dame,«ist, dass eine Ehe ohne Liebe keine Ehe ist, dass nur die Liebe die Ehe heiligt, und dass nur die von der Liebe geheiligte Ehe eine wahrhafte Ehe ist.»
    Der Kommis hörte lächelnd zu, er wollte sich möglichst viel von den klugen Reden zur weiteren Verwendung merken.
    Noch während die Dame sprach, ertönte hinter mir ein Geräusch wie von einem erstickten Lachen oder Schluchzen, und als wir uns umwandten, sahen wir meinen Nachbarn, den einsamen grauhaarigen Herrn mit den glänzenden Augen, der, offenbar an der Unterhaltung interessiert, unbemerkt zu uns herübergekommen war. Er stand hinter einem Sitz, die Hände auf die Lehne gestützt, und wirkte sehr erregt: Sein Gesicht war rot, ein Wangenmuskel zuckte.«Was ist das denn für eine – Liebe – Liebe – die die Ehe heiligt?», sagte er stockend.
    Die Dame sah, wie
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