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Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Titel: Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
Autoren: Sofja Lew u. Tolstaja Tolstoi
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dafür sind sie nicht allzu wichtig, längst nicht so wichtig wie die Regel über den Gebrauch von ut in Finalsätzen 5 .
    Keiner von den Älteren, auf deren Meinung ich etwas gab, sagte mir also, das sei schlecht. Im Gegenteil, von allen, die ich schätzte, hörte ich, es sei gut. Ich hörte, dass meine Kämpfe und Leiden sich danach legen würden, ich las und hörte von den Älteren, es sei gut für die Gesundheit;
von meinen Kameraden hörte ich, es sei etwas Verdienstvolles, ein Zeichen von Mut. Eigentlich schien es also rundum gut. Die Infektionsgefahr? Auch dafür waren ja Vorkehrungen getroffen. Darum kümmert sich unsere fürsorgliche Regierung. Sie überwacht den geregelten Betrieb der Freudenhäuser und ermöglicht Gymnasiasten ein lasterhaftes Leben. Es gibt Ärzte, die das alles gegen Bezahlung überwachen. Und das ist nur folgerichtig. Sie sind es schließlich, die behaupten, das Laster fördere die Gesundheit, also sorgen sie auch für ein geregeltes, ordentliches Laster. Ich kenne Mütter, die sich in diesem Sinn um die Gesundheit ihrer Söhne kümmern. Und die Wissenschaft schickt die Knaben in die Freudenhäuser.»
    «Warum die Wissenschaft?»
    «Wer sind denn die Ärzte? Die Hohepriester der Wissenschaft. Und wer verdirbt die jungen Männer, indem er behauptet, sie bräuchten das für ihre Gesundheit? Die Ärzte. Und dann behandeln sie mit größtem Ernst die Syphilis.»
    «Weshalb sollten sie sie denn nicht behandeln? »
    «Weil es die Syphilis längst nicht mehr gäbe, wenn man nur den hundertsten Teil der Anstrengungen, die man auf ihre Behandlung verwendet,
stattdessen der Ausrottung des Lasters widmen würde. So aber rottet man das Laster nicht aus, sondern fördert es noch, man macht es ungefährlich. Doch darum geht es nicht. Worauf ich hinauswill, ist, dass ich dieselbe entsetzliche Erfahrung gemacht habe wie mindestens neun von zehn Männern, nicht nur unseres Standes, sondern aller Männer, auch der Bauern, nämlich dass ich nicht deshalb gesündigt habe, weil ich einer natürlichen Versuchung erlegen wäre, den Reizen einer bestimmten Frau. Nein, es war keine Frau, die mich verführt hat, sondern ich habe deshalb gesündigt, weil meine Umgebung in dem, was mein Sündenfall war, entweder eine vollkommen berechtigte und gesunde Verrichtung sah oder aber ein ganz natürliches, nicht nur verzeihliches, sondern geradezu harmloses Vergnügen für einen jungen Mann. Mir war gar nicht klar, dass ich sündigte, ich gab mich einfach nur den Freuden oder Bedürfnissen hin, die ein bestimmtes Alter, wie man mir einredete, nun einmal kennzeichneten, ich fing an, diesem Laster zu frönen, wie ich zu trinken und zu rauchen angefangen hatte. Und dennoch lag in diesem ersten Sündenfall etwas Besonderes, Rührendes. Ich weiß noch, wie mir auf der Stelle, noch bevor ich aus dem Zimmer ging, traurig
zumute wurde, so traurig, dass ich am liebsten geweint hätte, geweint über den Verlust meiner Unschuld und mein für immer ruiniertes Verhältnis zu den Frauen. Ja, das natürliche, einfache Verhältnis zu den Frauen war für immer ruiniert. Ein reines Verhältnis zu einer Frau habe ich seither nicht mehr gehabt, und ich konnte es auch nicht haben. Ich wurde das, was man einen Schürzenjäger nennt. Und Schürzenjäger zu sein ist ein physischer Zustand, ähnlich dem des Morphinisten, des Trinkers oder des Rauchers. Wie der Morphinist, der Trinker und der Raucher keine normalen Menschen mehr sind, so ist auch ein Mann, der um seines Vergnügens willen mehrere Frauen gekannt hat, kein normaler Mensch mehr, sondern für immer verdorben – eben ein Schürzenjäger. Wie man einen Trinker oder Morphinisten sofort an seinem Gesicht und seinem Auftreten erkennt, so auch den Schürzenjäger. Ein Schürzenjäger kann enthaltsam sein, er kann kämpfen; aber er wird nie mehr ein schlichtes, klares, reines, ein brüderliches Verhältnis zu einer Frau haben. Daran, wie er eine junge Frau ansieht, sie mustert, erkennt man sofort den Schürzenjäger. Auch ich wurde ein Schürzenjäger und bin es geblieben, und das hat mich zugrunde gerichtet.»

V
    «So war das also. Und so ging es auch weiter, immer weiter, auf Abwegen aller Art. Mein Gott! Wenn ich an all meine Schandtaten auf diesem Gebiet zurückdenke, packt mich das Grauen. Und dabei verspotteten mich die Kameraden noch wegen meiner vermeintlichen Unschuld! Wenn man dagegen erst an die Jeunesse dorée denkt, an die Offiziere, an unsere Pariser 6 ! Und doch – alle
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