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Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Titel: Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
Autoren: Sofja Lew u. Tolstaja Tolstoi
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Toiletten, dieselben Parfums, dieselbe Unsitte, Arme, Schultern und Brust zu entblößen und den eng umspannten Hintern zu präsentieren, dieselbe Leidenschaft für Glitzersteine, für alles, was teuer ist und glänzt, dieselben Vergnügungen, Tänze, Musik und Gesang. Die einen wie die anderen verführen mit allen
Mitteln. Es gibt keinen Unterschied. Streng genommen kann man nur sagen, dass eine Frau, die sich auf kurze Zeit prostituiert, gewöhnlich verachtet wird, die lebenslange Prostituierte dagegen respektiert.»

VIII
    «So aber passte alles zusammen: einerseits mein Zustand, andererseits ihr Kleid, und schließlich die gelungene Bootsfahrt. Zwanzigmal war sie misslungen, aber diesmal stimmte alles. Es war wie eine Falle. Das meine ich ganz ernst. Heute werden Ehen wirklich so arrangiert, wie man Fallen stellt. Was wäre denn natürlich? Wenn ein Mädchen heranreift, muss man es verheiraten. Nichts einfacher als das, möchte man meinen, solange das Mädchen kein Scheusal ist und es heiratswillige Männer gibt. So hat man es früher auch gemacht. Wenn ein Mädchen alt genug war, arrangierten die Eltern eine Ehe. So war es und ist es auf der ganzen Welt: bei den Chinesen, den Indern, den Mohammedanern, und auch bei uns im einfachen Volk; mindestens neunundneunzig Prozent der Menschheit machen
es so. Nur unser verlottertes eines Prozent war damit irgendwann nicht mehr zufrieden und hat sich etwas Neues ausgedacht.
    Und was ist das Neue? Neu ist, dass die Mädchen dasitzen, die Männer aber gehen herum und wählen aus, wie auf dem Basar. Die Mädchen warten und wagen nicht zu sagen, was sie denken: ‹Nimm mich, mein Bester! Nein, mich! Achte nicht auf die anderen – schau nur, was für Schultern ich habe, und erst der ganze Rest!› Und wir Männer spazieren herum und weiden uns an ihrem Anblick und sind hochzufrieden. ‹Ich weiß Bescheid›, denken wir, ‹mich kriegt ihr nicht so leicht.› So spazieren wir herum und schauen und sind zufrieden, dass das alles uns gilt. Und kaum nimmt sich einer nicht in Acht- schnapp, schon haben sie ihn!»
    «Aber was soll man denn tun?», sagte ich.«Soll etwa die Frau den Heiratsantrag machen?»
    «Das weiß ich auch nicht, aber wenn schon Gleichheit, dann echte Gleichheit. Wenn man schon die Heiratsvermittlung erniedrigend findet, dann ist diese Sitte tausendmal erniedrigender. Bei der Heiratsvermittlung waren die Rechte und Chancen gleich, jetzt aber ist die Frau entweder eine Sklavin auf dem Basar oder ein Köder in der Falle. Sagen Sie einmal einer solchen
Frau Mama oder dem Mädchen selbst die Wahrheit, nämlich dass sie allein damit beschäftigt sind, einen Bräutigam zu angeln. Großer Gott, was für eine Beleidigung! Dabei tun sie wirklich allesamt nichts anderes, das ist ihre einzige Beschäftigung. Am schlimmsten ist, dass das oft auch ganz junge, unschuldige arme Mädchen betrifft. Und auch hier, wenn es wenigstens offen geschähe – aber so ist es ein einziger Betrug. ‹Ah, die Entstehung der Arten, wie interessant! Oh, Lisa interessiert sich sehr für Malerei! Kommen Sie auch zur Ausstellung? So lehrreich! Und die Schlittenfahrt, und das Theater, und das Symphoniekonzert? Großartig! Meine Lisa ist ganz verrückt nach Musik. Und wie kommt es, dass Sie diese Ansicht nicht teilen? Ach, und erst die Bootsfahrt! …› Dabei haben sie nur einen Gedanken: ‹Nimm mich, nimm meine Lisa! Nein, mich! Probier doch wenigstens! …› Grauenhaft! Nichts als Lügen!», schloss er, trank den letzten Schluck Tee aus und machte sich daran, Tassen und Geschirr wegzuräumen.

IX
    «Wissen Sie», begann er wieder, während er Tee und Zucker in seinem Reisesack verstaute,«die Herrschaft der Frauen, unter der die Welt leidet, das kommt alles nur davon.»
    «Die Herrschaft der Frauen?», sagte ich.«Aber rechtlich sind doch überall die Männer im Vorteil.»
    «Ja, ja, das ist es ja eben», unterbrach er mich.«Eben davon rede ich ja, wie dieses Phänomen sich erklären lässt, dass die Frau einerseits tatsächlich aufs Äußerste erniedrigt ist, aber andererseits die Macht hat. Genau wie die Juden, die sich mit ihrer Finanzmacht für ihre Unterdrückung rächen, so auch die Frauen: ‹Ihr wollt also, dass wir nur Händler werden können? Gut, dann werden wir als Händler Macht über euch erlangen›, sagen die Juden. ‹Ihr wollt also, dass wir nur Objekte der Sinnlichkeit sind? Gut, dann werden wir euch als Objekte der Sinnlichkeit unterjochen›, sagen die Frauen. Die
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