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Krank für zwei

Krank für zwei

Titel: Krank für zwei
Autoren: Kathrin Heinrichs
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sich auf den Gepäckträger zu setzen. Kinder seien unberechenbar, hatte der Psychologe gesagt, das Ganze ein tragischer Unfall, ein Schicksalsschlag, mit dem man jetzt leben müsse. Aber das konnten sie nicht. Sie alle nicht. Zuerst Mama. Mama hatte angefangen zu trinken. Immer sah sie Schneewittchen, wenn sie schlafen wollte. Immer sah sie Schneewittchen. Und deshalb fing sie an, abends ein paar Gläser Wein zu trinken. Aber das reichte irgendwann nicht mehr. Dann trank sie andere Sachen. Likör und Schnaps. Alles, was so da war. Papa schimpfte immer. Immer schimpfte er, weil er meinte, Mama habe nicht richtig aufgepaßt. Und jetzt passe sie nicht mehr richtig auf ihren Sohn auf, und alles würde den Bach runtergehen. Aber auf ihn mußte sie ja gar nicht aufpassen. Er war ja schon groß. Er konnte das schon selber. Und dann war Papa irgendwann weg, nach einem heftigen Streit. Er sagte, er könne es nicht mehr aushalten. Er würde ersticken. Mama würde alles kaputtmachen.
    Ja, und dann war er mit Mama allein. Jetzt mußte er auf Mama aufpassen. Denn Mama war immer krank. Und traurig war Mama auch. Arbeiten konnte sie schon gar nicht. Immer war sie krank, die ganzen Jahre lang. Und dann war sie irgendwann gestorben. Vor zwei Jahren war sie gestorben. Sie war jetzt bei Schneewittchen, und das war gut. Vielleicht konnte sie jetzt auch Schneewittchen wieder ein paar Märchen erzählen. Das hatte sie früher so oft gemacht. Sie hatte bei Schneewittchen am Bett gesessen, und dann hatte sie ein Märchen erzählt. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute glücklich beisammen. So hatten die Märchen fast immer geendet. Und wenn Mama dann rausgegangen war, dann hatte er das Märchen für seine Schwester noch einmal erzählt. Am liebsten das Märchen »Schneewittchen«. Denn das war sie ja selber. Sie hatte schwarze Haare, ganz dicke schwarze Haare. Und sie hatte eine helle Haut und rote Lippen, so wie Schneewittchen. Deshalb nannten Mama und er sie so. Schneewittchen. Nachher hatte er oft daran denken müssen. An den letzten Satz. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute glücklich beisammen. Schneewittchen lebte nicht mehr. Und Mama auch nicht. Wer noch lebte, war der Mann im Auto. Der, der Schneewittchen totgefahren hatte. Er lebte immer weiter, glücklich beisammen mit seiner Frau. Und das war nicht gerecht. Das war ganz anders als im Märchen. Im Märchen wurden immer die Bösen bestraft, und nicht die Guten. Im Märchen war das so. Und dann hatte er sich irgendwann auf die Suche gemacht. Und hatte ihn gefunden. Dr. Peuler. Seinen Namen wußte er ja noch von damals. Damals hatten er und seine Frau sie einmal besucht. Sie hatten helfen wollen. Frau Peuler hatte sogar geweint. Aber seine Mutter hatte gesagt, sie brauchten keine Hilfe. Sie kämen schon klar. Und es wäre wohl besser, wenn sie nicht wiederkämen. Mit dem Unfall müßte schon jeder selber klarkommen. Da waren sie dann abgezogen, die Peulers. Er hatte sie erst 24 Jahre später wiedergesehen, kurz nachdem er sich entschieden hatte. Als Mama tot war, war der Entschluß in ihm gereift. Wenn es schon nicht von allein wie im Märchen passierte, dann würde er eben nachhelfen. Er wußte ja, in welcher Stadt sie wohnten. Dort hatte er einfach ins Telefonbuch geguckt. Ob sie immer noch da waren. Und tatsächlich. Dr. Hartmut Peuler wohnte noch hier. Die Straße war leicht zu finden gewesen. Dann hatte er sie beobachtet. Er hatte gesehen, daß sie wirklich glücklich beisammenlebten. Er hatte herausgefunden, daß er Arzt war und in welcher Klinik er arbeitete. Und dann hatte er einen Entschluß gefaßt: Er würde auch dort arbeiten! Das hatte nicht auf Anhieb geklappt. Aber er hatte ja Zeit. Nach einer Weile hatte er sich noch mal vorgestellt, und nach einigem Zögern war man sich dann einig geworden. Man konnte ihn verwenden. Am nächsten Ersten hatte er seinen Dienst begonnen. Plötzlich war er ihm nahe gewesen. Oft hatte er ihn schon morgens gesehen, wenn er in die Klinik gekommen war, gut gelaunt und ausgeglichen. Der Mann hatte sein Glück in der Tasche gehabt.
    Schon bald hatte er gewußt, daß es morgens sein sollte. Morgens war Peulers Glück am größten gewesen, und morgens hatte er sich immer Zeit für sich allein genommen. Eine gute halbe Stunde saß er dann in seinem Büro und bereitete sich vor. Niemand durfte ihn dann stören. Es sei denn, es handelte sich um einen Notfall. So hatte er es dann auch aussehen
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