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Krach der Kulturen um einen Fahrstuhl an der Piazza Vittorio - Roman

Krach der Kulturen um einen Fahrstuhl an der Piazza Vittorio - Roman

Titel: Krach der Kulturen um einen Fahrstuhl an der Piazza Vittorio - Roman
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach
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Benedetta. Wie Sie wissen, ist guaglio’ neapolitanisch für cazzo. So haben’s mir viele Neapolitaner gesagt, mit denen ich gearbeitet habe. Jedes Mal, wenn sie mich auf den Fahrstuhl zugehen sieht, schreit sie los: »Guaglio’! Guaglio’! Guaglio’!« Im Iran ist es gute Sitte, die Alten zu respektieren und Gossensprache zu vermeiden. Statt auf eine Beleidigung mit einer neuerlichen Beleidigung zu antworten – wie es so viele tun –, begnüge ich mich mit einer kurzen Antwort: »Merci!« Ich drehe mich um und gehe wieder, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Apropos, wussten Sie, dass merci ein französisches Wort ist und danke heißt? Das hat mir Amedeo gesagt, und der kann sehr gut Französisch.
    Kennengelernt habe ich ihn bei einem kostenlosen Italienischkurs für die Einwanderer rund um die Piazza Vittorio. Ich war noch ganz neu in Rom. Amedeo war anders als die anderen, weil er an Stefanias Unterrichtsstunden teilnahm, ohne je eine auszulassen. Anfangs verstand ich nicht, warum er mit solchem Eifer und Fleiß bei der Sache war. Aber mit der Leidenschaft ist es wie mit herrlichem Sonnenschein – niemand kann den Sonnenstrahlen widerstehen. Leidenschaft ist die allerbeste Begleiterin der Jugend. Ein persisches Sprichwort sagt: Jugend ist Trunkenheit ohne Wein. Ein paar Monate später beschloss Amedeo, mit Stefania in deren Wohnung zu leben, die auf die Grünanlagen der Piazza Vittorio hinausgeht. Und außerdem kam er nicht mehr zum Unterricht, weil er – im Gegensatz zu mir – keinen Anfängerkurs mehr nötig hatte. Wir sind aber in Kontakt geblieben. Beinahe täglich trafen wir uns in Sandros Bar auf einen Cappuccino oder einen Tee. Sandro ist ein guter Mensch, aber er wird auch schnell wütend. Du musst nur »Forza Lazio!« sagen, um ihn auf hundertachtzig zu bringen. Bist du aber ein Fan vom AS Rom, behandelt er dich wie einen uralten Freund. Einmal fragte er mich, ob es auch im Iran Anhänger vom AS Rom gäbe. Um ihn nicht zu enttäuschen, sagte ich: »Na klar!« Da hat er mich umarmt.
    Wir trafen uns natürlich auch bei ihm zuhause. Seine kleine Küche habe ich sehr liebgewonnen; sie ist der einzige Platz, an dem mein wehes Herz Ruhe findet. Wenn ich an meine Kinder Shadi, Said, Surab und Omar denke und an meine Frau Zeinab, dann macht mich das sehr traurig. Wo sie jetzt wohl sein mögen? Wer weiß, wo sie gerade unterwegs sind? Wie gern ich sie alle küssen und umarmen würde. Nur meine Tränen und all diese vielen Flaschen Chianti löschen mein brennendes Heimweh. Ich weine viel und trinke dann noch mehr, um mein ganzes Unglück zu vergessen. Ich habe mir angewöhnt, mich jeden Tag an den Brunnen vor dem Eingang der Kirche Santa Maria Maggiore zu setzen – um die Tauben zu füttern oder um zu weinen. Niemand kann mir den Chianti aus den Händen nehmen, außer Amedeo. Er wagt es als Einziger, mich aus dem Inferno meiner Traurigkeit herauszureißen. Still setzt er sich neben mich, lässt mich für ein paar Minuten weinen und trinken, um dann wie von der Tarantel gestochen aufzuspringen und völlig aufgelöst zu sagen: »Oh mein Gott, wir sind zu spät! Wir müssen etwas zu essen machen, heute ist doch Stefanias Festtag! Oder hast du das etwa vergessen, Parviz?« So sagt er das immer, mit denselben Worten, auf dieselbe Weise und mit derselben Ernsthaftigkeit. Dann schaue ich ihn an und muss lachen, bis ich nicht mehr kann. Das Lachen hilft mir, wieder durchzuatmen. Derweil lenkt mich Amedeo mit Witzen ab, die so lustig sind, dass wir uns vor den Touristen ausschütten vor Lachen wie zwei Verrückte. Auf dem Nachhauseweg gehen wir bei Iqbal, dem Bengalen an der Piazza Vittorio, vorbei und kaufen dort alles, was wir zum Feiern brauchen: Reis, Hähnchen, Gewürze, Obst, Bier und Wein. Danach dusche ich, ziehe mich um, und dann steht da auch schon Amedeo, der mir die Küchentür aufhält: »Willkommen in deinem Königreich, Shahrayar, großer Sultan von Persien!« Daraufhin schließt er die Tür hinter mir und lässt mich für viele Stunden allein. Unverzüglich mache ich mich dann ans Zubereiten verschiedener iranischer Gerichte wie Ghormeh Sabzi oder Kabab Kubideh, Kashk Badinjan und Kateh. Die Gerüche, die sich in der ganzen Küche ausbreiten, lassen mich die Wirklichkeit vergessen, und es kommt mir dann vor, als stünde ich wieder in meiner Küche in Shiraz. Der Duft der Gewürze verdichtet sich mit der Zeit zu wohlriechenden Essenzen, und die wiederum lassen mich – ei, ei, ei! – singen und
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