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Krach der Kulturen um einen Fahrstuhl an der Piazza Vittorio - Roman

Krach der Kulturen um einen Fahrstuhl an der Piazza Vittorio - Roman

Titel: Krach der Kulturen um einen Fahrstuhl an der Piazza Vittorio - Roman
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach
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neulich bewusst geworden. Pizza ist zweifelsohne mein Lieblingsessen, da gibt’s kein Vertun. Sie ist mir quasi ins Blut übergegangen, und so bin ich von Pizza betrunken und nicht vom Wein. Binnen kurzem werde ich gänzlich zu Teig und dann selbst eine Pizza werden.
    Donnerstag, 3. November, 22.15 Uhr
    Parviz irrt nicht, wenn er sagt, dass jeder einen Ort hat, an dem er zur Ruhe kommt. Man muss ihn nur in der Küche sehen. Er ähnelt einem König in seinem Reich, weil er innerhalb weniger Sekunden seine Ruhe und Gelassenheit wiederfindet. Dann ist mir, als sähe ich Shahrayar vor mir, den Sultan aus
Tausendundeine Nacht
, glücklich und zufrieden, weil er einer Erzählung von Sheherazade gelauscht hat. Das Badezimmer ist der einzige Platz, der uns vollkommenen Frieden und kostbare Momente des Alleinseins beschert. Nicht umsonst wird es bei uns Ruheraum genannt. In diesem kleinen Bad finde ich meinen Frieden. Das ist mein Nest. Und diese weiße Schüssel, auf der ich mich niederlasse, um mich zu erleichtern, ist mein Thron.
    Samstag, 3 . Juli, 23.04 Uhr
    Ich habe des Öfteren versucht, Parviz davon zu überzeugen, dass er die Geheimnisse der italienischen Küche erkunden soll, aber er hat das abgelehnt. Diese Frage öffnet das Feld für so viele neue Probleme, die weit über den Bereich der Gastronomie hinausreichen. Ich glaube, dass Parviz fürchtet, die iranische Küche zu vergessen, wenn er sich der italienischen widmet. Das ist die einzige Erklärung für seinen Pizzahass im Speziellen und seinen Hass auf Teigwaren im Allgemeinen. Auch ein arabisches Sprichwort besagt ja, dass zwei scharfe Schwerter nicht in eine Scheide gehen. Parviz ist wohl davon überzeugt, dass es unmöglich sei, beide friedlich nebeneinander existieren zu lassen. Für ihn ist die iranische Küche mit ihren Gewürzen und Kräutern das, was von seinem früheren Leben geblieben ist. Besser gesagt, ist sie ihm alles in einem: sein früheres Leben, sein Heimweh und der Geruch seiner Lieben. Diese Küche ist das Band, das ihn mit Shiraz verbindet, das er nie wirklich verlassen hat. Parviz ist schon komisch: Eigentlich lebt er nicht in Rom, sondern in Shiraz. Warum also drängen wir ihn, die italienische Sprache und italienisch kochen zu lernen? Sprechen die Leute in Shiraz vielleicht italienisch? Isst man in Shiraz vielleicht Pizza, Spaghetti, Fettuccine, Lasagne, Ravioli, Tortellini und Auberginenauflauf? Auuuuuuuuu …
    Freitag, 14 . April, 23.36 Uhr
    Heute habe ich geweint! Ich traute meinen Augen kaum, und die Tränen flossen, ohne dass ich es bemerkt hätte. Ich war nicht darauf gefasst, Parviz in diesem Zustand vorzufinden. Am Telefon war die Sozialarbeiterin nicht ins Detail gegangen. Sie hatte mir nur gesagt: »Parviz geht es schlecht. Kommen Sie, bevor es zu spät ist.« Ich dachte so bei mir, dass er womöglich mehr als sonst getrunken hatte. Ich fuhr in das Flüchtlingsheim und drängte mich zwischen die Polizisten und Krankenpfleger. Als ich ihn mit dem zugenähten Mund sah, spürte ich ein schreckliches Beben in jedem Teil meines Körpers. Ich war unfähig zu sprechen, nahm seine Hand und umarmte ihn fest. Oh, mein Gott! Wo kommt nur all die Traurigkeit her! Und was bedeutet es zu schweigen? Soll man überhaupt reden? Gibt es Möglichkeiten, die Wahrheit zu sagen, ohne die Lippen zu bewegen? Sie haben Parviz gesagt, dass die Geschichte, die er über seine Flucht aus dem Iran erzählt hatte, erfunden sei, dass es sich bei ihm um keine politische Angelegenheit handele, sondern eher um sein Küchenlatein. Darum beschieden sie ihm: »Deinem Gesuch wurde nicht stattgegeben.« Sie haben ihm nicht geglaubt, dass er aus Shiraz geflohen ist, nachdem die Revolutionswächter regierungskritische Flugblätter der Volksmudschaheddin in seinem Restaurant gefunden hatten. Es stimmt schon, dass Parviz kein militanter Politaktivist ist und keinerlei Kontakt zu entsprechenden Gruppierungen hat. Aber sein Leben war in Gefahr. Er floh in einer trostlosen Nacht, ohne seine Kleinen und seine Frau zum Abschied küssen zu können. Und die Zeit reichte auch nicht mehr, seinem geliebten Shiraz Lebewohl zu sagen.
    Aus diesem Elendsquartier, in dem es so stinkt, dass es einem den Atem raubt, schreie ich meine Fragen heraus: Wer ist im Besitz der Wahrheit? Und überhaupt: Was ist denn Wahrheit? Sagt man Wahrheit mit Worten? Parviz hat seine Wahrheit mit zugenähtem Mund gesagt, er hat durch sein Schweigen gesprochen!
    Heute ist meine Abneigung gegen die Wahrheit
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