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Tante Dimity und die unheilvolle Insel

Tante Dimity und die unheilvolle Insel

Titel: Tante Dimity und die unheilvolle Insel
Autoren: Nancy Atherton
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    DER TAG WAR viel zu schön, um an Mord und Totschlag zu denken. Es war Ende April, und die milde Luft war durchdrungen von den Düften des Frühlings. Schlüsselblumen nickten anmutig in der Wiese, der Eichenwald war übersät von Glockenblumen, und das weiche Sonnenlicht übergoss unser honigfarbenes Cottage mit einem goldenen Glühen. Während ich im wadentiefen, wogenden Gras mit meinen fünfjährigen Söhnen Kricket spielte, lag mir daher nichts ferner als die Vorstellung, wir alle könnten von irgendeinem rachsüchtigen Verrückten in unseren Betten erdrosselt werden.
    Ich benutze den Begriff »Kricket spielen« in einem sehr weiten Sinn. Auch wenn mein Mann und ich nun schon seit sieben Jahren in der Nähe von Finch lebten, einem kleinen Dorf in den Cotswolds im Herzen der englischen West Midlands, waren wir beide in Amerika geboren und aufgewachsen und hatten nie wirklich die Regeln dieses Sports erfasst, der für uns ein höchst sonderbares und fremdartiges Spiel darstellte. Unsere Zwillinge dagegen wuchsen in England auf –

    sie teilten die Vorlieben der Einheimischen. Und Kricket war nun mal der nationale Zeitvertreib.
    Während sie abwechselnd den Ball schleuderten und mit dem Schläger wegdroschen, taugte ich zu nichts anderem, als ihnen die Bälle zu bringen.
    Soeben hatte ich ein triefendes Exemplar aus dem plätschernden Bach am Ende unserer Wiese geborgen, als ich meinen Mann aus dem Wintergarten treten sah, der an die Rückseite unseres Hauses grenzte. Will und Rob waren ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten – dunkelhaarig, braunäugig und dem Tempo nach zu urteilen, mit dem sie aus ihren Kleidern herauswuchsen, dazu bestimmt, seine stolze Höhe zu erreichen, wenn nicht sogar zu übertreffen. Ob sie Bill eines Tages ins Familienunternehmen nachfolgen oder es vorziehen würden, als Profigolfer Geld zu scheffeln, stand noch in den Sternen.
    Bill war ein exklusiver und äußerst diskreter Anwalt, der den Großteil seiner Zeit damit verbrachte, für die richtig Wohlhabenden Testamente aufzusetzen. Er leitete die europäische Zweigstelle der ehrwürdigen Kanzlei seiner Familie von Finch aus, wo er ein Büro mit Blick auf den Dorfplatz hatte, doch seine Arbeit führte ihn oft weit weg von zu Hause. In den letzten drei Tagen war er in seinem Londoner Büro gewesen, und eigentlich hatte ich ihn erst übermorgen zurückerwartet. Da fragte ich mich natürlich, warum er schon so bald heimgekehrt war.
    Stanley, unser frisch adoptierter schwarzer Kater, folgte ihm in den Garten, doch Bill bemerkte ihn offenbar nicht. Weder traf er Anstalten, sich zu bücken und Stanley über das glänzende Fell zu streichen, noch mich und die Jungs mit lautem Rufen zu begrüßen oder über die niedrige Mauer zu steigen und zu uns herüberzulaufen. Nein, er blieb einfach im Schatten des alten Apfelbaums stehen und schaute uns zu. Schweigend starrte er die Jungs einen langen Moment an, dann schaute er auf zu den bewaldeten Hügeln, die sich hinter der Wiese steil erhoben, und fixierte den Bach.
    Als sein Blick endlich meinem begegnete, überlief mich ein derart heftiger Schauer der Angst, dass mir der nasse Ball aus den Fingern glitt. Mein Mann schien um mindestens zehn Jahre gealtert zu sein, seit wir uns vor ein paar Tagen voneinander verabschiedet hatten. Seine Schultern waren hochgezogen, das Gesicht war eingefallen und sein Mund zu einem schmalen Strich verkniffen. Als unsere Blicke sich ineinander verschränkten, sah ich in seinen Augen im Schatten von brennender Sorge jäh Zorn auflodern. Die Intensität seiner Emotionen traf mich wie ein Schlag ins Gesicht.
    Ich muss nach Luft geschnappt haben, denn jetzt blickten auch Will und Rob zum Cottage hinüber und schrien wie aus einem Mund:
    »Daddy!« Mit einem Schlag war das Kricketspiel vergessen. Sie ließen Schläger und Ball fallen, jagten über die Wiese und sprangen über die Mauer in den Garten, wo sie zögerten und schließlich stocksteif stehen blieben, um unsicher zu ihrem Vater hochzuschielen. Als ich über die Mauer stolperte, wagten sie sich endlich näher und legten ihre Hände in die von Bill.
    »Was hast du, Daddy?«, fragte Rob.
    »Ist es ganz schlimm?«, erkundigte sich Will.
    Bill ließ sich auf die Knie sinken und zog die Jungs zu sich heran. Dabei senkte er den Kopf und drückte die Augen fest zu, als hätte er Schmerzen. Als sich die Zwillinge befreien wollten, sog er mit bebenden Nasenflügeln die Luft ein und lockerte schließlich seinen
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