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Krach der Kulturen um einen Fahrstuhl an der Piazza Vittorio - Roman

Krach der Kulturen um einen Fahrstuhl an der Piazza Vittorio - Roman

Titel: Krach der Kulturen um einen Fahrstuhl an der Piazza Vittorio - Roman
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach
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spüle ich das Geschirr, ertrage die Rückenschmerzen und meine leichte Arthrose, als dass ich Anweisungen befolge: »Parviz, schäl die Zwiebeln!«, »Parviz, setz Wasser auf!«, »Parviz, mach die Pasta!«, »Parviz, schau mal nach den Spaghetti!«, »Parviz, wasch das Obst!«, »Parviz, nimm den Fisch aus!« Für mich ist die Küche wie ein Schiff. Parviz Mansoor Samadi setzt keinen Fuß auf ein Schiff, auf dem er nicht der Kapitän ist. So ist das eben. Amedeo begleitet mich immer bei allen Ämtergängen, wenn ich etwa meine Aufenthaltsgenehmigung verlängern lassen muss oder irgendwelche Verwaltungssachen erledigen soll. Als ich noch allein auf städtische Ämter ging, verlor ich leicht die Kontrolle, fing an rumzuschreien, und sie jagten mich jedes Mal davon wie einen räudigen Hund. Sie riefen mir Sätze hinterher wie: »Wenn du hier nochmal auftauchst, rufen wir die Polizei!« Keine Ahnung, warum sie immer gleich mit der Polizei drohen.
    Wo er jetzt ist? Wer weiß das schon. Alles, was ich weiß, ist, dass Amedeo eine Riesenlücke in unseren Leben hinterlässt. Oder noch besser gesagt, kann ich mir Rom ohne Amedeo gar nicht vorstellen. Ich erinnere mich noch an diesen verfluchten Tag im Polizeipräsidium in der Via Genova, wo ich hingegangen war, um den Bescheid des Hohen Kommissariats für Flüchtlingsfragen abzuholen. Die Worte des Polizeiinspektors schockierten mich: »Dein Antrag wurde abgelehnt. Jetzt kannst du nur noch Einspruch einlegen.« Ich bin in die erste Bar rein, die ich dort an der Straße gefunden habe, kaufte einige Flaschen Chianti – wie viele, das weiß ich nicht mehr – und ging Richtung Santa Maria Maggiore, um mich wie gewöhnlich an den Brunnen zu setzen, nur dass ich dieses Mal dort trinken und weinen wollte. Es hat mich so sehr verletzt, dass mein Antrag abgelehnt wurde. Weil ich kein Lügner bin. Aus Shiraz bin ich geflüchtet, weil ich bedroht wurde, und wenn ich in den Iran zurückkehre, erwartet mich dort der Strick. Aber die hielten mich für einen Lügner und Betrüger. Es wäre mir niemals in den Sinn gekommen, den Iran freiwillig zu verlassen. Während des Krieges gegen den Irak habe ich in vorderster Linie gekämpft und wurde mehrfach verwundet. Und überhaupt, wie hätte ich je meine Kinder, meine Frau, mein Zuhause und mein Restaurant in Shiraz verlassen können, wenn nicht, um dem Tod zu entgehen! Ich bin ein Flüchtling und kein Immigrant.
    Moment, das ist wirklich wichtig, denn es hat auch mit meinem Freund Amedeo zu tun. Wie ich schon sagte, ich habe lange geweint und viel getrunken, und dann ist mir eine geniale Idee gekommen. Ich bin gleich zum Wohnheim für Asylbewerber gelaufen, wo ich untergebracht war, habe Nadel und Faden genommen und meine Idee in die Tat umgesetzt. An die Ausrufe der Sozialarbeiterin erinnere ich mich gut: »Dio mio, Parviz hat sich den Mund zugenäht! Oddiomio, Parviz hat sich den Mund zugenäht!« Alle möglichen Leute mischten sich ein und versuchten, mich dazu zu bringen, das alles sein zu lassen. Aber ich wehrte mich. Sie riefen einen Krankenwagen, der Notarzt versuchte, mich zum Aufgeben zu bewegen, aber umsonst. Nach verschiedenen weiteren Versuchen, die sich über Stunden hinzogen, riefen sie die Polizei, die wiederum auf jede erdenkliche Weise probierte, mich ins Krankenhaus zu bringen. Aber ich habe unter Einsatz aller meiner Kräfte gekämpft. Ich schloss die Augen, und mir war, als würde ich in Shiraz am Hafiz-Mausoleum schlafen, wie damals als Kind. Ich habe mich schrecklich angestrengt, um all das, was da passierte, für einen lästigen Alptraum oder ein Alkoholdelirium zu halten. Geöffnet habe ich meine Augen erst wieder beim Gebrüll eines Polizeibeamten, der mit seinem Schlagstock herumfuchtelte: »Entweder du gehst freiwillig in die Notaufnahme oder wir stecken dich in eine Zwangsjacke und bringen dich in die Psychiatrie!« Ich aber sagte mir: »Diesen Ort verlasse ich nur in einem Sarg.« Dann schloss ich wieder die Augen, so als wäre ich eine Leiche. Irgendwann spürte ich eine sehr warme Hand, machte mühsam die Augen auf und hatte Amedeo vor mir. Da sah ich ihn zum ersten Mal weinen. Er umarmte mich wie eine Mutter ihr Kind, das vor Kälte bibbert, weil es auf dem Heimweg von der Schule überraschend in den Regen gekommen ist. Er hielt mich lange in seinen Armen, und ich weinte mir die Augen aus. Als das vorbei war, brachte Amedeo mich in die Krankenhausambulanz, wo sie mir den Faden aus den Lippen zogen und ich –
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