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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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Hunderte, vielleicht Tausende davon. Ihre Ordentlichkeit störte ihn, und so zog er wahllos einige aus dem Regal. Noch unbefriedigt, räumte er stoßweise ab. Dinge, die zwischen den Seiten lagen, flatterten zu Boden, abgerissene Kinokarten, Zeitungsausschnitte und eine Postkarte mit einem Leuchtturm auf der Bildseite.
    Er drehte sie um. 18. August 1994. Liebe Anna, heute habe ich die letzte Seite abgeschlossen, und jetzt denke ich an dich. Das war alles, was er geschrieben hatte. Er musste den Federhalter weggelegt und aufs Wasser hinausgesehen, die Karte dann zwischen die Seiten dieses Buches geschoben und sie vergessen haben. Plötzlich packte ihn die Wut, dass der Mann, der er gewesen war, es sich leisten konnte, einfach so mitten im Satz abzubrechen, dass er einen angefangenen Brief an seine Frau ungestraft vergessen konnte. Ein Mann, der die Freiheit hatte, wegzugehen und wiederzukommen, nach Hause zu schreiben oder nicht, die Seite liegen zu lassen und in den Nachmittag zu verschwinden – und dem nichts vorgehalten wurde. Ein Mann, der kein Freak war, der geliebt, von Hunden und Kindern gleichermaßen respektiert wurde. Er riss die Postkarte in Stücke und machte das Fenster auf. Es erstaunte ihn, heiße Tränen auf seinem Gesicht zu spüren. Er lehnte sich hinaus so weit er konnte, öffnete die Hand, und als der zerfetzte Leuchtturm durch die Luft trudelte, stopfte er sich die Knöchel in den Mund und stieß einen heulenden Schrei aus, so hoch, dass er fast lautlos blieb.
    Er sah die Papierschnitzel unten auf dem Gehsteig landen. Eine Frau, die eiligen Schritts irgendwo hinstrebte, blieb stehen und blickte nach oben. Samson lehnte sich in den Schatten zurück. Das Vergessen war außerhalb seiner Kontrolle; das stand jetzt endgültig fest, und selbst wenn er es gewollt hätte, konnte er sich die verlorene Zeit nicht zurückwünschen. Es ärgerte ihn, so wenig Einfluss auf sein eigenes Schicksal zu haben – in kindlicher Freiheit eingeschlafen und vierundzwanzig Jahre später in einem Leben aufgewacht zu sein, mit dem er nichts zu tun hatte, umringt von Leuten, die nur eins von ihm erwarteten: jemand zu sein, der er seines Wissens nie gewesen war.
    Als er zum Bett zurückkehrte, hatte Anna sich wieder auf ihre eigene Seite gerollt. Bei ihrem Anblick im gedämpften Licht der Straßenlaterne staunte er über ihre Schönheit. Er legte sich hin und schloss die Augen. Mit dem Schlaf kam das Vergessen. Darin fühlte er sich zu Hause.

S eine Tage waren mit Arztterminen und Untersuchungen gefüllt. Es gab weitere CTs und MRTs. Inzwischen kannte er das Ritual, und während er in der Bleischürze wartete, bis der technische Assistent ihn abholte, blätterte er im People Magazine . Ein paar Berühmtheiten erkannte er wieder, einen alt gewordenen Mick Jagger, eine dicke Liz Taylor.
    «Oh, sie hat viel durchgemacht, seit Sie zuletzt von ihr gehört haben», scherzte die Krankenschwester, als sie ihn in das Bild vertieft sah. Er liebte diese Zeitschriften wie früher die Comichefte: er wollte sie tauschen und sie alle sammeln. Er liebte die heißen Tipps und die Neuigkeiten aus dem Leben der Stars, die er beim Durchblättern aufschnappte, und er liebte es auch, dieses Wissen zu benutzen, um andere mit seiner Schnelligkeit zu überraschen. Einmal, als er eine von Annas Freundinnen wegen ihrer zimperlichen Art Martha-Stewart-hörig nannte, empörte sie sich, es sei alles nur ein Jux, er spiele den Dummen und könne sich in Wirklichkeit genau erinnern, worauf er den ganzen Stapel Zeitschriften durchsuchen musste, um ihr die Sondernummer über die reichsten Frauen Amerikas zu zeigen.
    Jeder im Neurologischen Institut mochte Samson, und kurze Zeit war er selbst eine Art kleine Berühmtheit, ein Einer-unter-Millionen-Fall. Er war ein pflegeleichter Patient, ausgeglichen und gehorsam, der sich von einer Untersuchung zur nächsten schicken ließ und schluckte, was man ihm zu schlucken gab. Einmal, als er noch in der beengenden Röhre der MRT-Maschine lag, zugedröhnt mit seichter UKW-Musik, die ihm über Kopfhörer geschickt wurde, spürte er – etwas, was er noch nicht artikulieren konnte – die Absurdität seiner Lage. Er hatte kein Problem bei der Lösung kognitiver Aufgaben, die ihm von den Neurologen gestellt wurden, und sie kamen zu dem Schluss, dass sein Sprachgefühl, seine Fähigkeit, abstrakte Begriffe zu verstehen, sein Intellekt selbst bemerkenswert intakt geblieben waren. Trotz der fehlenden Erinnerung an die
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