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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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letzten vierundzwanzig Jahre befanden sie, er habe immer noch den Verstand eines intelligenten Erwachsenen. Anhand primitiver Zeichnungen auf den Rückseiten loser Blätter demonstrierten sie Samson und Anna, dass der Verstand erlerntes Wissen über die Welt nicht chronologisch speichert, wie er es mit Erfahrungen tut. Teilweise fiel es Samson so leicht, Gedanken zu formulieren, weil sein faktisches oder semantisches Gedächtnis nicht vollständig zerstört worden war. Das Ergebnis war eine besonders erfinderische Denkweise, eine Tendenz, entfernte Dinge unabhängig von den gewöhnlichen Zusammenhängen zu verknüpfen. Es war eine Nebenwirkung seines Gedächtnisverlusts, die Kreativität eines entwickelten Verstandes, der die Welt ganz neu erlebt.
    Nur bei den einfachsten Fragen versagte er regelmäßig: Wo sind Sie aufs College gegangen? In welchem Jahr haben Sie geheiratet? Statt zu antworten, sah er sie hilflos an, verletzt durch ihr Nachhaken. Wieder und wieder ließen sie ihn die Ereignisse der Tage, mittlerweile Wochen seit dem Eingriff erzählen, die Spur zurückverfolgend, bis sie sich im Dunkeln verlor.
    Es war eine lange, unergründliche Dunkelheit, eine anhaltende Pause, die sich nicht in Jahren zählen ließ. Und genau dann, wenn es schien, sie würde ewig währen, endete sie, und Samson tauchte auf der anderen Seite im hellen, unvergesslichen Licht der Kindheit wieder auf.

E r war in Kalifornien aufgewachsen, in Los Altos, nicht weit vom Pazifik entfernt. Als Kind war er oft mit seiner Mutter ans Meer gefahren. Ein paar Kilometer nördlich von Half Moon Bay gab es eine Stelle, die sie besonders mochten. Sie liefen den steilen Felsweg zwischen Buschwerk und Aloe hinunter und gingen dann am Wasser entlang. Samson rannte voraus, bückte sich forschend nach Muschelschalen oder Steinen wie ein Archäologe, der ausgelaufene Wellen untersucht. Oft nahmen sie den Hund mit, eine kleine schwarze Hündin. Sie rannte neben Samson her, steckte ihre Nase in alles, was er fand und inspizieren wollte, oder sie trödelte und blieb bei seiner Mutter. Wenn sie dann im Licht des späten Nachmittags zurückfuhren, lag Samson mit dem warmen, sandigen Hund auf der Rückbank, während die Bäume und der Himmel am offenen Fenster vorbeiflitzten.
    An diese Szenen erinnerte er sich deutlich. Zuerst stiegen sie eine nach der anderen in ihm auf, kurze Momente außerhalb der Zeit, wie Schnappschüsse. Bald begann er, die einzelnen Bilder aneinander zu reihen, aber kaum dass er zwei zusammenfügte, brach dazwischen eine Fülle neuer Erinnerungen hervor. Seine Kindheit wuchs, wurde jeden Tag komplexer, gewann Schatten, Objekte, Ecken und Ausdrücke hinzu. Förderte er einen blauen Sessel zutage, durfte er nicht leer bleiben, und schon fiel ihm ein, wie seine Mutter darin Äpfel schälte oder der Hund mit den Pfoten zwischen die Beine fuhr, um einen Tennisball zu ergattern. Durch die Bewegung plötzlich in Schwung gekommen, wurde die Abfolge stiller Bilder lebendig und gewann eine Eigendynamik. Er fand heraus, dass er die Jahre vorbeirauschen lassen und aufs Geratewohl bei einem Bild anhalten konnte, das sich ihm wie durch ein Stereoskop darbot. Sein an der Hauswand lehnendes Fahrrad mit dem rostigen Klingelrand, dem Gummifuß an dem verkratzten Ständer. Die von Wind und Wetter grün gefärbten Holzsprossen seines Klettergerüsts, das düstere, unter dem Gewicht des Regens zusammensackende Leinwandzelt. Die Umschläge bestimmter Bücher, die er mit der sturen Beharrlichkeit eines Rekordbrechers wieder und wieder gelesen hatte. Die Klarheit war verblüffend, und Samson fragte sich, ob er diese Momente erfand. Nicht, dass es sie gar nicht gegeben hätte, aber dass sie ausgeschmückt waren, angereichert mit Details von anderswo, Überresten des Erlöschens anderer Erinnerungen, vagabundierenden Einzelheiten, die sich Halt suchend an dem festmachten, was ihm im Gedächtnis geblieben war. Doch letzten Endes verwarf er diese Idee. Die Erinnerungen waren zu perfekt: ließ man das Geringste aus, fielen sie in Trümmer.
    Er erinnerte sich, wie er mit zwei anderen Jungen Handball gegen das Garagentor gespielt hatte. Reihum hatten sie den Gummiball zwischen die Handflächen gepresst, und bei jedem Aufprall war ein schmieriger Fleck auf dem Anstrich des Garagentors zurückgeblieben. Er hatte sich gedacht, wenn es gelänge, die Oberfläche Punkt für Punkt zu treffen, ergäbe sich eine einheitliche Schmiere, und dann würde seine Mutter es
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