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Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
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das wäre was.»
    «Ich glaube, viele Freiwillige würden Sie nicht finden. Zu übergriffig.»
    «Glaube ich auch. Nur ganz Verwegene. Oder Exhibitionisten», sagte Lavell.
    Samson grinste. Von da an ging er einmal in der Woche zu Lavell.
    Samson war überaus wachsam, nahm nervös alles auf, was ihn umgab. Er achtete auf andere, versuchte ihnen Hinweise für sein eigenes Verhalten abzuschauen, und weil er Arthur Lavell mochte und respektierte, beobachtete er ihn mit besonderer Aufmerksamkeit. Lavell war Mitte sechzig, kahlköpfig bis auf einen Kranz widerspenstiger grauer Locken, die ihm auf den Kragen fielen. Er hatte ein fleischiges Gesicht mit hängenden Zügen, wie von einer Schwerkraft beherrscht, die seine Backen nach unten und die Nasenlöcher in die Länge zog. Um seine Augen waren dunkle Ringe. Er hatte Stummelfinger, und einer war in einen Ehering gezwängt, der eher als ein aufgesteckter Fremdkörper denn als ein Symbol leidenschaftlicher Verbundenheit erschien. Lavell war nicht der Typ, der Leidenschaft ausstrahlt; er bewegte sich phlegmatisch wie ein Bodenfresser. Samson hatte gehört, im Lauf der Jahre habe Lavell immer mehr Zeit im Forschungslabor verbracht und sei im Umkreis des Instituts als brillanter Kopf bekannt. Ein wandelnder Denker, so vertieft, dass er oft mitten in einer Versammlung oder einer erlauchten Runde seinen Gedanken nach und zur Tür hinausging. Manchmal lachte er laut, wenn sonst niemand lachte, oder er schlief auf dem Stuhl ein. Doch obwohl Lavell zu jedermann höflich und bei den Assistenzärzten beliebt war, schien er ihre Gefühle nicht zu erwidern. Lavell spürte eine gewisse Ambivalenz gegenüber Menschen, eine größere Loyalität gegenüber dem Gehirn als gegenüber der von dem Organ geprägten Persönlichkeit. Vielleicht war das der Grund, warum er mit den Jahren weniger Medizin praktiziert und, nur noch von den interessantesten Fällen angezogen, mehr Zeit im Labor verbracht hatte.
    Dass Samson sich seinerseits von ihm angezogen fühlte, lag vielleicht gerade an dieser Ambivalenz. Es war eine Gefühlslage, die Samson in diesen ersten bemerkenswerten Tagen der Rückkehr verstand. Denn trotz Annas Schönheit, trotz der bezaubernden Fotos, der hübschen Wohnung voller Souvenirs an ein gut gelebtes Leben konnte Samson für sein eigenes Leben kein anderes Gefühl als vage Bewunderung ausgraben.

S amson wurde wach, als der Wecker klingelte, und fühlte Anna wach werden, sich herumwälzen und aus dem Bett klettern. Ihre nackten Füße auf dem Holzboden. Platschendes Wasser im Waschbecken, die Dusche. Er lag still unter der Decke, während sie sich umzog, bewahrte sie als eine Sinneswahrnehmung, eine Reihe von Geräuschen. Dann fühlte er, wie sie über ihm stand, den Kopf zu ihm hinunterbeugte. Als ihre Lippen seine Stirn berührten, schlug er die Augen auf, lange genug, um ihr Gesicht zu erfassen. Dann schlug er sie wieder zu und wartete auf die Geräusche des Hundes im Flur, des sich im Schloss drehenden Schlüssels.
    Jetzt war er schon einen Monat zu Hause und hatte mit Anna ein notdürftiges Dasein improvisiert. Sie vermieden Themen, von denen sie beide wussten, dass sie wie Störungszonen den Boden unter ihnen aufzureißen drohten. Stattdessen redeten sie über Dinge, die Samson immer noch nicht in den Kopf wollten: den Zusammenbruch der Sowjetunion, dass die Russen jetzt unsere dicken Freunde waren, dass sich niemand mehr besonders um die Gefahr eines Atomkriegs zu sorgen schien.
    Wenn Freunde anriefen, die unbedingt mit Samson sprechen wollten, steckte Anna ihm, wer sie waren, bevor er widerstrebend zum Hörer griff. Am Ende ließ er es bleiben, nahm die Anrufe nicht mehr entgegen und hörte aus dem Nebenzimmer zu, wie Anna in matten und gedämpften Tönen über seinen Zustand sprach: Die Untersuchungen hätten keine Hinweise auf ein Nachwachsen des Tumors ergeben; er sei immer noch in ärztlicher Behandlung; nein, keine Erinnerungen, nichts, was über die Kindheit hinausgehe; sie sei ihm vollkommen fremd, und er selbst sei wie ausgewechselt, gar nicht mehr dieselbe Person.
    Sie ging auf und ab, während sie sprach, und manchmal weinte sie ins Telefon.
    Manchmal trafen sie auf der Straße Leute, die er einmal gekannt hatte. Die meisten zogen ein seltsam schmerzliches Gesicht, aber andere machten auch fröhlichere Scherze oder erzählten lustige Dinge, die Samson einmal getan oder gesagt hatte, was für wunderbare Zeiten sie miteinander verbracht hatten. Im Weggehen
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