Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)

Titel: Kommt ein Mann ins Zimmer (German Edition)
Autoren: Nicole Krauss
Vom Netzwerk:
versprachen sie, bald anzurufen, und manche taten es, andere nicht.
    Als er endlich den Mut aufbrachte, Anna zu fragen, was seiner Mutter zugestoßen sei, legte sie eine Pause ein und berührte sein Gesicht.
    «Sie hatte Krebs. Es ist fünf Jahre her.»
    Er wusste nicht, was er erwartet hatte, doch als er das hörte, wurde ihm der Tod seiner Mutter plötzlich hart und schneidend bewusst. Obwohl er versuchte, gute Miene zu allem zu machen, was man ihn zu akzeptieren zwang, gab es Momente, da schien es ihm zu viel verlangt. Dass der Sowjetkommunismus gestürzt, dass Gouverneur Reagan Präsident geworden, dass John Lennon ermordet worden war – schön und gut. Dass seine Mutter, außer der er keine unmittelbare Familie hatte, nicht mehr existierte, stand auf einem ganz anderen Blatt. Er brach zusammen, hielt sich schützend die Hände vors Gesicht, und dann war Annas Körper da, an seinem, gab ihm Halt.
    «Ich weiß», flüsterte sie ihm ins Haar.
    Minuten vergingen. Als er sich entwand und sie ansah, wirkte ihr Gesicht starr und fremd.
    «Konnte ich mich noch verabschieden?»
    «Ja. Es ging sehr schnell. Aber du warst bei ihr. Bis zum letzten Atemzug hast du an ihrem Bett gesessen.»
    Das war alles, was zu fragen er ertragen konnte. Bald begann er zu akzeptieren, dass seine Mutter nicht mehr war, aber er konnte sich nur schwer an den Gedanken gewöhnen, dass Anna Dinge über sie wusste, die er jetzt nicht mehr wusste: wie sie alt geworden war, ihre letzten Worte. Der Gedanke daran bereitete ihm Schuldgefühle, als hätte er seine Mutter im Stich gelassen, eine Fremde zur Erinnerung bestellt.
    Ein paar Tage später, als er zuschaute, wie Anna den Hund an die Leine nahm, um ihn Gassi zu führen, fragte er: «War sie früh oder spät?»
    «Hmm? Was meinst du?»
    «Meine Mutter. Wenn du ihre Gewohnheiten beschreiben solltest, war sie eher pünktlich oder zu spät?»
    «Immer zu spät. So war sie doch schon, als du ein Kind warst, stimmt’s?»
    «Was war ihre Lieblingsfarbe?»
    Er hörte die Kälte in seiner Stimme. Anna schwieg, sah ihn forschend an.
    «Ist das ein Test?» Sie lehnte an der Tür, hielt seinem Blick stand, ehe sie antwortete. «Blau. Sie trug es andauernd, weil es zu ihren Augen passte. Sie waren blau, aber manchmal wirkten sie grau, und am Ende sah sie nicht mehr gut. Sie hatte drei Brillen, konnte aber nie eine finden. Sie war sehr stolz und wollte nichts von irgendjemandem annehmen. Sie rief dich an, um dir Witze zu erzählen, vergaß aber manchmal deinen Geburtstag.»
    «Schon gut. Hör auf.»
    «Dein Geburtstag: Frühgeburt, 29. Januar 1964.» Sie sprach jetzt hastig, und zum ersten Mal bemerkte Samson ein leichtes Lispeln, etwas an ihrer Art zu sprechen, das ihr aus der Kindheit geblieben war. «Niemand erinnert sich an deine ersten Worte. Am ersten Tag im Kindergarten bist du auf das Schaukelpferd geklettert und hast geschrien, sobald sich jemand näherte. Du wolltest Astronaut werden.»
    «Schon gut, Anna. Tut mir Leid. Ich hätte nicht …»
    «Wie wär’s damit: das erste Mal, dass du einen stehen hattest, war kurz vor deinem zwölften Geburtstag. Du bist – ja, jetzt fällt’s mir wieder ein –, du hast gesagt, du seist schwimmen gegangen und habest dann in der Badehose in der Sonne gelegen. Der Hund war bei dir, an dich geschmiegt.»
    Entsetzt starrte er sie an. Es war, wie wenn man Kontakt zu Außerirdischen aufnimmt und nichts anderes erfährt, als dass sie einen schon seit Jahren beobachten. Sein Bewusstsein mochte noch so rein gewaschen sein – Anna würde alles Schreckliche oder Beschämende, was er je getan oder gesagt und jetzt vergessen hatte, in Erinnerung bewahren.
    «Ich glaube, ich habe genug gehört.»
    «Ich glaube nicht. Es gibt noch viel mehr, es nimmt kein Ende, verstehst du?» Sie packte ihn hart am Handgelenk, dass er zusammenzuckte. «Und was weißt du über mich? Du wolltest einen Test, hier hast du ihn: Sag mir, was zum Teufel du über mich weißt.»
    «Ich weiß nicht.»
    Sie ließ seine Hand fallen. «Du weißt nicht. Du weißt nicht! », schrie sie mit überschnappender Stimme. «Und das Schlimmste an der ganzen Sache ist, ich liebe dich immer noch. Ich habe dich verloren, und doch bist du noch hier. Um mich zu verhöhnen. Begreifst du das? Hast du noch einen Funken Empathie, eine Ahnung, wie das ist?»
    Ein Schluchzer, der irgendwo aus etwas Animalischem aufzusteigen schien, schüttelte ihren Körper. Samson nahm ihre Hand. Er rieb ihr Knie und klopfte ihr auf
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher